Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

Je oller, je toller

von Arndt Hopfmann

Vor zirka einem halben Jahrhundert war das Fahrrad auf dem Lande noch ein veritables individuelles Transportmittel zur Schule oder zur Arbeit in der LPG, oder es war ein nicht ungefährliches Spielzeug für Stadtkinder. Dann – mit der Verbreitung des Fernsehens und dem Zuwachs an Freizeit, der stundenlange Live-Übertragungen von asphaltierten Straßen, vorbeihuschenden Bäumen und bunt betuchten Modellathleten ansehensmöglich machte – wurde es der Inbegriff von Fitneß und Leidenschaft für Medienlieblinge wie Jan, Olaf oder gar den legendären Täve (an dessen Klarnamen sich kaum noch jemand erinnert).
Doch auch diese Zeit scheint jetzt am Ende aller Dopingherrlichkeit angelangt. Die Super-Kerle und Sympathieträger von einst sind entweder völlig abgetaucht oder erscheinen auf dem Bildschirm nur noch in Begleitung ihrer Anwälte. Aber ist das Fahrrad damit endgültig der Vergangenheit überantwortet, vergessen und vergammelt?
Für das TV – wie das Fernsehen heute heißt – mag diese Frage mit »Ja« beantwortet werden (jedenfalls wenn das mediale Getöse nach der jüngsten Tour de Farce in Rechnung gestellt wird), aber wohl nicht für Otto, den Normalmenschen. Dieser Otto ist männlich und genießt seinen Ruhestand, den er in der passenden Saison vorzugshalber radelnd verbringt. Dazu hat er sich ein ordentliches Rad gekauft, das so um die tausend Euro gekostet hat – die Fahrradindustrie, ein Leuchtturm der produktiven Beschäftigung insbesondere in Ostdeutschland, dankt! Und Otto besitzt eine ganze Bibliothek voll Radwanderführer. Derart bestens ausgerüstet, begibt sich Otto auf große Radwandertour – des nächtens bequem untergebracht in teuren Hotels und in der Öffentlichkeit der Radwanderrouten stets begleitet von einer wesentlich jüngeren Dame, von der nicht ganz klar ist, ob es sich um die Tochter, die Fitneß-Assistentin oder die zur Nothilfeschwester ausgebildete Ehefrau beziehungsweise Lebensabschnittsgefährtin handelt.
Wer da jedoch denkt, dies sei eine harmlose Freizeitbeschäftigung, die sich auf Zehn-Kilometer-Rundkursen abspielt, der irrt – und zwar gewaltig. Kürzlich sollen in Hitzacker an der Elbe zwei jugendliche Heißsporne, die gerade eine Tagesetappe von 120 Kilometern von Hamburg kommend absolviert hatten, beinahe in Ohnmacht gefallen sein, als ihnen eine älteres Ehepaar eröffnete, daß diese vom noch gut vierzig Kilometer weiter elbabwärts gelegenen Kollmar eingetroffen seien. Distanzen von täglich bis zu zweihundert Kilometern sind für rüstige Ruheständler inzwischen offenbar völlig normal. Einige »Fanatiker« begnügen sich jedoch nicht nur mit der durchschnittlichen Etappenlänge bekannter Rad-Renn-Rundfahrten, sondern übertreffen diese bezüglich der Gesamtstreckenlänge sogar noch – von Radebeul über Magdeburg, Hamburg, Cuxhaven und Kiel nach Greifswald, mit Ziel in Frankfurt an der Oder, alles in 14 Tagen; soweit darf es schon sein.
Nun, nach dem Lesen dieser Zeilen wird manch einer – wie die zum Beispiel die Bundesregierung – vielleicht zu einer durchaus kurzschlüssigen Reaktion neigen: All dies ist offenbar nur der Beweis, daß es höchste Zeit wird, das Renteneintrittsalter anzuheben. Aber Vorsicht – der rüstige Ruheständler und seine dynamische Gefährtin sind nicht nur potentielle Kostenfaktoren für das chronisch fehlentwickelte hiesige Krankheitsbehandlungssystem, sie sind vor allem Konsumenten, das heißt, sie schaffen Einkommen, indem sie locker und reichlich Geld ausgeben. Der Kauf von Fahrrädern der oberen Preisklasse (einen standesgemäßen Personenkraftwagen besitzen die allermeisten zudem ohnehin), Hotelübernachtungen und unzählige Gaststättenbesuche – das sind die volkswirtschaftlich vor allem relevanten Faktoren des radelnden Rentnerstandes.
Mit dem regierungsoffiziell geplanten Hinausschieben des Renteneintrittsalters und der Absenkung der Bezüge sind ganze Wirtschaftszweige – und dort vor allem die Arbeitsplätze – bedroht, und da eine anderweitige Nutzung durch Familien mit Kindern kaum in Sicht ist, fragt es sich zudem, für wen denn all die wunderbaren Radwege so aufwendig und solide präpariert wurden. Für die Katz, wahrscheinlich.