Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Integration per Bankauszug

von Jens Kassner

Unmengen an Textseiten und ebenso viele mündliche Äußerungen hat es in den vergangenen Monaten zum Thema Integration von Zuwanderern und deren Einbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Seltsame Fragebögen, verfaßt von eifrigen Ministeriumsmitarbeitern, machten die Runde; auch die fast schon versiegte Debatte um eine »Leitkultur« erhielt neue Nahrung. Ebenso heftig ist allerdings auch die Kritik an diesen massiver werdenden Versuchen der Abschottung. Doch diese Kritiker scheinen nicht sehr tief in der Materie zu stehen.
Was sind in Deutschland maßgebliche Kriterien für einen erfolgreichen Einbürgerungsantrag? Zunächst muß der Anwärter auf einen deutschen Paß bereits mehrere Jahre hierzulande legal leben. In dieser Zeit oder auch schon früher sollte er sich die Grundlagen der deutschen Sprache angeeignet haben. Er hat das Grundgesetz anzuerkennen. Dafür muß er es zunächst einmal gelesen haben, was man wohl nur von einer Minderheit der Deutschen annehmen kann. Und es wird erwartet, daß er bestimmte Gepflogenheiten der neuen Heimat kennt und respektiert. Soweit, so richtig. Doch dann kommt ein weiteres Kriterium hinzu, das in der öffentlichen Diskussion überhaupt keine Erwähnung findet.
Oksana P. – der Name ist fiktiv, die Person real – lebt seit 1994 in Deutschland. Die Russin hat einen Deutschen geheiratet und bekam relativ unkompliziert die Genehmigung zur Familienzusammenführung. Drei Jahre später wurde die zunächst zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung in eine unbefristete umgewandelt. Die Frau schaffte es trotz einer Blockadehaltung des örtlichen Arbeitsamtes, Weiterbildungskurse zu besuchen und im Anschluß auch in Werbeagenturen Arbeit zu finden. Seit nunmehr vier Jahren ist sie als Freiberuflerin in dieser Branche tätig. Selbst gemäß streng ausgelegter Richtlinien kann sie eigentlich als Musterbeispiel für erfolgreiche Integration gelten. In manchen als hierzulande typisch angesehenen Tugenden wie Sauberkeit und Pünktlichkeit ist sie sogar deutscher als ihr Mann.
Doch Oksanas Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft liegt seit fünf Jahren auf Eis. Denn da gibt es eben jenen nachzuweisenden Fakt, über den nicht öffentlich diskutiert wird. Sie soll nichts weiter tun als belegen, daß sie bis an das Lebensende materiell abgesichert ist. Nun könnte man annehmen, daß im obrigkeitlichen Verständnis für eine Minimalabsicherung die selbst gesetzte – wenn auch intern zuweilen noch als parasitär hoch angesehene – Grenze des ALG II gilt. Mitnichten, ein Einbürgerungswilliger muß deutlich mehr aufbringen. Wo denn das Limit ist, läßt sich nicht genau erfahren. Das ist offenbar Ansichtssache der jeweiligen Sachbearbeiter.
Den Oksana P. auferlegten Beleg dafür, daß sie in die Sozialkassen Beiträge abführt, sieht sie noch ein. Bei der aufgezwungenen Berufsunfähigkeitsversicherung kommen ihr aber schon Zweifel – von welchem deutschen Selbständigen wird so etwas zwingend verlangt?
Üppig leben Oksana und ihre Familie nicht gerade, doch spürbar über dem Niveau der »Stütze«. So glaubte sie, nach dem Umzug in eine andere sächsische Großstadt dem zynischen Grinsen der wasserstoffblonden Dame in der Chemnitzer Einbürgerungsbehörde entronnen zu sein, die ihr schon mehrfach geraten hat, den Antrag doch endlich zurückzuziehen. Doch auch im ersten Schreiben des nunmehr zuständigen Amtes wird gefordert, das Einkommen der Familie detailliert zu belegen. Mit Bestätigung eines Steuerberaters. Für solch einen Stempel, den dieser sogenannte Berater unter die ihm zugearbeiteten Zahlen setzt, bezahlt man durchschnittlich vierzig Euro.
Das Verfahren ist pervers und absurd zugleich. Langzeitarbeitslosen werden 1-Euro-Jobs als Rettung aus der Not auferlegt, gegenüber Einbürgerungswilligen wird solch ein Standard aber als menschenunwürdig bezeichnet. Es geht nicht etwa darum, daß sich der Staat gegen Leistungsansprüche absichern will. Im Sozialsystem, solange dieses noch existiert, ist Oksana bereits verankert, da sie mehrere Jahre versicherungspflichtig gearbeitet hat.
Wann ist man in Deutschland integriert? Wenn der Kontostand den Anschein erweckt, daß man sich das eigene Begräbnis leisten kann, ohne die Hinterbliebenen zu belasten. Außerdem sollte man noch keinen allzu gebrechlichen Eindruck machen sowie für die Jahre vor dem Friedhof ein ausreichendes Finanzpolster nachweisen. Eigentlich muß man sich nicht mehr darüber wundern: Integration vollzieht sich im kapitalistischen Deutschland per Bankauszug.