Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

Ein Geniestreich (I)

von Heerke Hummel

Was würden Sie denken – beziehungsweise tun –, käme jemand daher und lüde Sie ein, in wenigen Tagen gemeinsam des 35. Jahrestages der Weltrevolution zu gedenken? Das Geringste wäre wohl die bekannte Bewegung mit dem Zeigefinger an den Kopf.
Und dennoch: Am 15. August 1971 kündigte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Richard Nixon, das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944 einseitig auf und teilte in seiner sonntäglichen Fernsehansprache der verblüfften Welt mit, die USA würden ihrer einst übernommenen Verpflichtung, je 35 US-Dollar gegen eine Feinunze Gold einzutauschen, fürderhin nicht mehr nachkommen. Damit vollzog er mit einem Federstrich, ohne einen einzigen Schuß abzugeben und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, das, was Karl Marx rund hundert Jahre zuvor als eine revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats prognostiziert hatte.
Schüsse waren allerdings in den Jahren zuvor gefallen, und Blut war während des Vietnam-Krieges der USA in Strömen geflossen. Die Entscheidung des Präsidenten war, obgleich – oder gerade weil – aus einer Notsituation heraus geboren, aus nationaler Sicht ein finanztechnischer Geniestreich; auch wenn sie bei genauerer Betrachtung als Eigentor des internationalen Finanzkapitals zu bewerten ist, dessen man sich bis heute kaum bewußt geworden ist. Was war geschehen?
Zweieinhalb Jahrzehnte lang hatte sich in der globalen Auseinandersetzung zwischen Ost und West jenes Lager, das alle Welt wenigstens scheinbar für den Sozialismus hielt, auf dem Vormarsch zur »Weltrevolution« befunden. Zu dessen wichtigsten Stationen gehörten die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs nach Mittel-Osteuropa und die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft in China, die Brechung des Atombombenmonopols der USA und der erste Sputnikstart sowie die erste Erdumrundung einer Menschen im Weltraum, die Auflösung des Kolonialsystems – teilweise mit »sozialistischer« Orientierung – und schließlich der Kampf um die Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischer Flagge.
Jahrzehntelang hatten die USA »über ihre Verhältnisse« gelebt, um ihre Vormachtstellung in der Welt vor allem militärisch zu festigen – auf Kosten der Wirtschaft und der Infrastruktur, deren Modernisierung vernachlässigt wurde. Den Konflikt in Vietnam hatten die USA zu ihrem eigenen Krieg gemacht. Finanziert wurde diese auf Weltherrschaft orientierte Politik durch zunehmende Staatsverschuldung, in hohem Maße auch gegenüber Westeuropa. Das war um so leichter, als dafür noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Abkommen von Bretton Woods günstige politisch-ökonomische Bedingungen geschaffen worden waren.
Auf diese Vereinbarung, bezeichnet nach dem im US-Bundesstaat New Hampshire gelegenen Städtchen, wo sie am 27. Juli 1944 von 44 Staaten unterzeichnet worden war, hatten sich nach dreijährigen Diskussionen und Auseinandersetzungen führende Wirtschafts- und Finanzexperten der britischen und der amerikanischen Regierung geeinigt. Sie machten den US-Dollar zur Leitwährung der westlichen Welt, indem ein System fester Wechselkurse der anderen Währungen gegenüber dem Dollar beschlossen wurde und die US-Zentralbank sich verpflichtete, Dollar in Gold einzulösen. Nur die USA waren völlig autonom in ihrer Währungs- und Geldpolitik, während alle anderen Mitglieder dieses Systems ihren Wechselkurs gegenüber dem Dollar durch Devisenmarktinterventionen sicherzustellen hatten. Nur wenn sich dauerhafte Ungleichgewichte ergäben, sollte im Rahmen einer internationalen Vereinbarung der Wechselkurs verändert, also die entsprechende Währung auf- oder abgewertet werden können.
Gegen Ende der sechziger Jahre war der US-Dollar mehr und mehr »unter Druck« geraten. Die Ursachen dafür lagen sowohl in der Entwicklung der Weltwirtschaft – Ergänzung des wachsenden internationalen Warenaustausches durch das zunehmende Bedürfnis nach freiem Kapitalverkehr, also Globalisierung aller ökonomischen Prozesse von der Investitions- und Produktionstätigkeit bis zu Dienstleistungen und Handel mit Waren, Geld und Wertpapieren – als auch in der weltmachtorientierten Politik der US-amerikanischen Regierungen.
Solange die USA kein großes Außenhandelsdefizit aufwiesen, funktionierte das System von Bretton Woods ziemlich reibungslos. Als aber die USA begannen, ihre Hegemonialpolitik durch Erhöhung der umlaufenden Geldmenge – und damit indirekt durch die anderen Mitgliedsländer des Systems beziehungsweise durch die auf Dollar-Basis handelnden Staaten – zu finanzieren, wurde die Welt mit dem Dollar überschwemmt. Die angeschlossenen Länder beziehungsweise ihre Notenbanken mußten Dollar aufkaufen, um ihre Wechselkurse auf dem beschlossenen Niveau zu halten. Diese Kurse stimmten mit der ökonomischen Realität jedoch häufig nicht mehr überein. Schon 1969 entsprachen die Goldreserven der USA nicht einmal mehr den Dollarbeständen des Mitgliedslandes Frankreich. Im August 1971 deckten sie nur noch zu einem Viertel die tatsächlichen Auslandsschulden.
Damit war der papierne US-Dollar zu einer höchst unsicheren Währung geworden. Denn die Wahrscheinlichkeit, das Versprechen seiner Einlösung gegen Gold zum Kurs von 35 Dollar je Unze im Falle einer allgemeinen Flucht aus dem Papiergeld wahrnehmen zu können, war auf 25 Prozent gesunken. Wer ihn besaß, versuchte, ihn schnell wieder loszuwerden und möglichst in Realwert – zum Beispiel in Gold – zu verwandeln. Und darum stieg im freien Handel der Goldpreis.
Mitte Juli 1971 lag er bereits bei 40,40 Dollar je Unze (also mehr als fünf Dollar über dem amerikanischen Notenbank-Standard!), am 28. Juli schon bei 41, 975 Dollar und tags darauf sogar bei 42,09 Dollar. In Europa wurden Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen ergriffen. In der Schweiz wurde nach Angaben einer großen deutschen Wirtschaftszeitung vom 2. August 1971 unter anderem in Aussicht genommen, die Flucht (von Geld) in die Schweiz unattraktiv zu machen durch eine Aufhebung (!) der Verzinsung dieser Gelder.
Und zwei Tage später war an gleicher Stelle unter der Überschrift Frankreich verschärft Abwehrmaßnahmen gegen den Devisenzufluß – Banken sollen spekulative Transaktionen ablehnen zu lesen: Die Bank von Frankreich hat … in einem Rundschreiben an die zum Devisenhandel zugelassenen Banken das Niveau der Auslandsverbindlichkeiten dieser Banken auf dem Stand vom 3. August blockiert. Die Banken durften also ihre Dollarbestände nicht mehr weiter erhöhen. Zu allem Überfluß verzeichnete die New Yorker Börse nun auch noch Kurseinbrüche bei Aktien, so daß die Presse um den 10. August herum titelte: Flucht aus dem Dollar und amerikanischen Aktien, Schweiz tritt die Bremsen gegen »hot money«-Zuflüsse durch, Bundesrepublik und Schweiz im Brennpunkt der Devisenmärkte oder Hektik im Devisenhandel hält an.

Wird fortgesetzt

Der Autor veröffentlichte Ende vorigen Jahres eine ökonomische Analyse der modernen Gesellschaft, auch mit einer neuen Sicht auf die jüngere Geschichte: Heerke Hummel: Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, ISBN 3-86634-048-6, Projekte-Verlag Halle, 500 Seiten, 38,25 Euro