Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Der Feldhaubitze ungeschminkte Mündung

von Wolfgang Beutin

Die Meldung in den Medien, der deutsche Literaturnobelpreisträger Günter Grass sei Mitglied der Waffen SS gewesen, hat in der Öffentlichkeit heftige Irritationen erzeugt, aber auch allerlei Argumente ans Licht gebracht. Doch fehlte etwas: Die literarische Qualität der Veröffentlichungen des Günter Grass blieb aus dem Spiel, man setzte diese voraus, fragte nicht, wieweit die einstmalige Mitgliedschaft in der Waffen SS im Werk nachwirkte und wirkt. Dies sei hier nachgeholt, wenn auch nur unter zwei Aspekten: dem ideologischen und dem sprachkritischen.
Grass wiederholte seit Jahrzehnten unablässig, eine völlig ideologiefreie Leistung vollbracht zu haben, und doch, sieht man die Schriften durch, quellen sie über von ideologischem Ballast. Dazu zählt die Betonung der Notwendigkeit, die NS-Vergangenheit endlich zu unterdrücken, samt der Klage, daß dies ewig mißlinge: »Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch.«
Den Kult der Erinnerung an die ehemals deutschen Gebiete und Städte im Osten, in erster Linie Danzig, sowie »Flucht und Vertreibung« (der Deutschen) fördert Grass nach Kräften. Vom Geburtsort, eben Danzig, macht er gern Gebrauch in fast allen seinen Reden. Sogar extremen Gebrauch in den Erzählungen und Romanen, wo er eine Inflation von Danziger Motiven verursacht – gewiß nicht der geringste Umstand, der zu seinem Erfolg bei der Kritik und im Publikum beitrug. Als zentrales Thema, das »seiner Generation« zukäme, benennt er 2002 das »Elend der ostpreußischen Flüchtlinge«. »Niemals … hätte man über so viel Leid … schweigen … dürfen.« In Wirklichkeit ist niemals nach 1945 darüber geschwiegen worden, weder in der westdeutschen noch in der DDR-Literatur, weder im Film noch in sonstigen Medien. Von der Politik zu schweigen. Dokumentationen haben es aufgelistet.
Ein ranziger Nationalismus bildet das basale Element der synkretistischen Ideologie des Günter Grass. Im Sommer 1965 verfaßte er eine Rede: Was ist des Deutschen Vaterland? … also unter Verwendung des Titels eines Gedichts von Ernst Moritz Arndt, das ihm auch die Ausgangsbasis für allerlei Spekulationen bot. Er schalt den Mangel an Bildung von (damals) in Bonn regierenden Christdemokraten, ein Manko, das »nationale Schamröte hervorrufen sollte«. Gemeint vermutlich: ›als Reaktion der Nation Scham hervorrufen‹ oder ›den Angehörigen der deutschen Nation die Schamröte ins Gesicht treiben sollte‹? Seine besondere Aversion gilt der von den Alliierten in Deutschland eingeleiteten Entnazifizierungpolitik (»der bis heute wirksame Blödsinn der Entnazifizierung«) und dem Antifaschismus: »Klischee«, welches »nichts und alles Unmögliche sagt«. Grass verstärkte nicht nur die nationale Lamento-Kampagne der Gegenwart in Deutschland, sondern lieferte ebenfalls beflissen seinen Anteil zur Verunglimpfung der Kriegsgegner des Reichs im Zweiten Weltkrieg. Folglich charakterisiert er den sowjetischen U-Boot-Kommandanten vermöge der Merkmale: »sturzbetrunken«, »Sauftour« und »Verweilen in finnischen Hurenhäusern«. Damit erreicht er übrigens ein Maximum seiner Porträtierungskunst. Die Gleichsetzung »Rot = Braun« als Bestandteil der Totalitarismus-Ideologie durchzieht sein gesamtes Werk, bis hin zu den neuesten Interviews. So als Andeutung, die Bundesrepublik werde »von ganz links« oder »von ganz rechts untergraben«; Goebbels fände »brillante Schüler … heute im Lager der westeuropäischen radikalen Linken«; Frage (1968), »inwieweit der Faschismus heute im extrem linken Lager produktiv ist« und so weiter.
Konnte dieser Schriftsteller jemals legitimiert sein, sich als moralischer Tonangeber dieses Landes zu etablieren? Einer, der so vehement wie er den NATO-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien befürwortete (1999)? Durfte einer dies bleiben, der sich zum enthusiastischen Propheten des Neoliberalismus aufschwang? (So in der Erklärung »Auch wir sind das Volk«, 2004).
Wie weit her ist es mit der Versicherung namhafter Experten der Literaturkritik, außer durch (vorgebliche) Ideologiefreiheit seien die Schriften des Autors charakterisiert durch die vorzügliche Sprachgebung? Grass schreibt: »Was war das, Polen? Die hatten doch ihre Kavallerie! Sollten sie reiten! Die küßten den Damen die Hände und merkten immer zu spät, daß sie nicht einer Dame die müden Finger, sondern einer Feldhaubitze ungeschminkte Mündung geküßt hatten. Und da entlud sie sich schon, die Jungfrau aus dem Geschlecht der Krupp. Da schnalzte sie mit den Lippen, imitierte schlecht und doch echt Schlachtgeräusche, wie sie in Wochenschauen zu hören sind, pfefferte ungenießbare Knallbonbons gegen das Hauptportal der Post, wollte die Bresche schlagen und schlug die Bresche und wollte durch die aufgerissene Schalterhalle hindurch das Treppenhaus anknabbern … Und ihr Gefolge hinter den Maschinengewehren, auch die in den eleganten Panzerspähwagen … fuhren ratternd, gepanzert und spähend vor der Post auf und ab: zwei junge bildungsbeflissene Damen, die ein Schloß besichtigen wollten, aber das Schloß hatte noch geschlossen. Das steigerte die Ungeduld der verwöhnten, immer Einlaß begehrenden Schönen …«
Die literarische Methodik des Verfassers – hier wie anderswo – besteht darin: Er stellt die Kriegshandlung allegorisch dar, wobei der bildspendende Wirklichkeitsbereich der sexuelle ist, der empfangende der militärische. Daraus resultiert, daß der mörderische Kampf als Liebesgetändel erscheint, das zum Töten benutzte Kriegsgerät als »Jungfrau« oder Korona schöner Damen, der Tötungsakt als süßliches Geturtel. Zudem mixt Grass verniedlichende Lexik hinein: »pfefferte … Knallbonbons«, »anknabbern« sowie die deplaciert wirkende, weil outrierte rhetorische Figur vom geschlossenen Schloß. Szenarios von solcher Machart gelten als Glanzstücke des Romans. Sie entstanden durch eine Verschmelzung von Lexemen des militärischen Vokabulars mit solchen aus dem Wortfeld der Erotik. Resultat? Unter dem Aspekt des Inhalts beurteilt, der im Leser geweckten Vorstellungen: faulige ›Mystik des Krieges‹; funktionell gewertet: dessen allegorisierende Verklärung. Angewandt wurde ein literarisches Verfahren, welches der Blechtrommler nicht als originale Schöpfung reklamieren dürfte, da ein altes Erbstück vorliegt. Angeeignet mutmaßlich aus älterer Literatur, wie sie im Schulbuch abgedruckt war. Zum Beispiel: »Drum drückt den liebeheißen, / Bräutlichen Mund von Eisen / An Eure Lippen fest!« (Aus dem Schwertlied von Theodor Körner.) … woraus bei Grass, in peinlicher Vergröberung, schon einmal werden konnte: »einer Feldhaubitze ungeschminkte Mündung« küssen.
Die Sprachgebung des Günter Grass unter die sprachkritische Lupe genommen, welches Fazit ist nahegelegt? Hier liegt ein Beispiel für Scharlatanismus in der Literatur vor.

Ausführlich zum Thema siehe Wolfgang Beutin in: Zum aktuellen Umgang mit der Nazizeit. Beiträge einer multidisziplinären Geschichtswerkstatt, Pankower Vorträge, Heft 57, Berlin 2003