Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Briefe an Arthur

von Thomas Rüger

Lieber Arthur, neulich hatte ich einen kafkaesken Alptraum. Ich befand mich vor Gericht, angeklagt einer nicht nachvollziehbaren Gesetzesüberschreitung. Als ich schweißgebadet aufgewacht war, verschwand schnell die Erinnerung an konkrete Einzelheiten. Tagsüber stolperte ich beim Besuch der Stadtbibliothek über ein Buch – ich stolperte sogar im wahrsten Sinne des Wortes über ein am Boden liegendes Buch … Purer Zufall oder Fügung des Schicksals? Es war jedenfalls eine Abhandlung über das Leben und Wirken von Cyril Northcote Parkinson.
Nun sind ja dem in unzähligen Wissensshows allseitig gestählten Bildungsbürgertum beim Stichwort Parkinson zwei höchst unterschiedliche Konnationen auf Anhieb bekannt: der Herr Parkinson als Entdecker beziehungsweise Namensgeber für die umgangssprachlich als Schüttellähmung bezeichnete Krankheit einerseits, der Herr Parkinson, der sich als Untersuchungsgegenstand den ausufernden Verwaltungsapparat, ihres Ursprungsortes wegen als Bürokratie bezeichnet, zum Leib- und Magenthema machte andererseits. Nicht daß er die Bürokratie verschlang, er entdeckte vielmehr, wie verschlingend sättigend der bürokratische Apparat sich kontraproduktiv aus- und verbreitete.
Während ich also nun in besagter Stadtbibliothek am Boden liegend, nicht schüttel-, sondern nur kurzzeitig gelähmt, über die Erkenntnisse des zweitgenannten Herrn Parkinson nachdachte, das Buch über Cyril Northcote im unmittelbaren Gesichtsfeld, wurde ich von einer Bibliotheksangestellten höflich, aber doch energisch darauf hingewiesen, daß das Lesen gemäß Bibliothekssatzung nur in den speziell dafür vorgesehenen Ecken erlaubt sei. Da war sie also wieder – eine der höchst überflüssigen Vorschriften in diesem Lande!
Lieber Arthur, Vorschriften und Gesetze sind in begrenztem Maße zur Regelung des menschlichen Miteinanders ganz nützlich und sinnvoll. Doch im Übermaß töten sie menschliche Kreativität und Lebensfreude. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie fassungslos die Bibliotheksangestellte mich anschaute, als ich sie fragte, ob sie sich ein Leben ohne gesetzliche beziehungsweise behördliche Bestimmungen vorstellen könne, und dann meine anarchistische Agitation fortsetzte: Ob unsere Gesetzesmanie nur ein wohlweislich verschwiegener genetischer Defekt sei? Es biete sich ja ein Ausweg an: Wir schaffen den Staat sowie alle staatlichen Vorschriften ab. Das Entropiegesetz als Krönung wird zur evolutionären Scherzplatte erklärt und biologisch entsorgt. Während ich in lautes Gelächter ausbrach, traf der neurasthenisch veranlagte Bibliotheksleiter am Schauplatz ein. Ein gutes Dutzend Besucher spekulierte darüber, ob es sich bei meinem rhetorischen Spektakel um eine bezahlte Stand-up-Comedy oder ein unfreiwilliges Improtheater handele.
Der Leiter verschaffte sich mit lauter, sich fast überschlagender Stimme schnell Gehör. Während er aufgeregt mit der Bibliothekssatzung in der erhobenen linken Hand wedelte, erteilte er mir im militärischen Brüllton ein sofortiges und lebenslängliches Hausverbot. Es gelang mir, mit innerer Gelassenheit und einem überzeugten Siegerlächeln die Stätte meiner fundamentalen Erkenntnis zu verlassen. Um meinen Erkenntnisgewinn vollkommen werden zu lassen, lieber Arthur, rätsele ich jetzt nur noch über der Frage, ob und wie der Weltenlauf der Annullierung des Entropiegesetzes ohne weiteres zustimmen wird.
Es grüßt Dich bewußt nicht vorschriftsgemäß, sondern herzlichst
Dein Konrad Knurrhahn