von Klaus Hart, Rio de Janeiro
Man stelle sich folgendes in Deutschland vor: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat keine stabile Mehrheit im Bundestag, muß die Parlamentsunterstützung Tag für Tag neu aushandeln. Ihre rechte Hand im Kanzleramt sowie andere ihr nahestehende Politiker organisieren deshalb Stimmenkauf, illegale Geldtransaktionen in Millionenhöhe an Parteien und Parlamentarier. Um Mehrheiten zu garantieren, werden Bundestagsabgeordnete mit Geld gefügig gemacht. Die Sache fliegt auf, parlamentarische Untersuchungsausschüsse erbringen die nötigen Beweise. Die Bundeskanzlerin erklärt im Fernsehen, von den finsteren Machenschaften engster Mitarbeiter nichts gewußt zu haben, lehnt jegliche politische Verantwortung für Stimmen- und Parteienkauf ab, bleibt im Amt. So schildert Claudio Weber Abramo, Exekutivdirektor von Brasiliens populärstes Nichtregierungsorganisation, Transparencia Brasil, die Lage in Brasilien, bezogen auf die Regierung von Staatschef Lula und seiner Arbeiterpartei PT. Trotzdem hat Lula allergrößte Chancen, im Oktober bereits im ersten Wahlgang wiedergewählt zu werden.
Allerdings sollen über hundert Politiker und Unternehmer vor Gericht gestellt werden. Deshalb wollen sich viele hochbelastete Kongreßabgeordnete durch eine Wiederwahl in die Immunität flüchten, um einem Prozeß zu entkommen. Weil Transparencia Brasil dagegen eine öffentliche Kampagne gestartet hat und die betreffenden Politiker beim Namen nennt, hat sie jetzt gerichtlichen Ärger mit Lulas Arbeiterpartei.
Im vorigen Jahr hatte Staatschef Lula noch die Bestrafung aller Schuldigen versprochen. Dies ist indessen keineswegs mehr sicher. Denn über 150 Politiker, die in verschiedene Korruptionsskandale der jüngsten Zeit verwickelt sind oder wegen anderer Delikte als schwer belastet gelten, stehen derzeit in der Kampagne für die Wiederwahl und verschweigen den rund 120 Millionen Pflichtwählern ihre Probleme mit der Justiz. Transparencia Brasil hat alle Kandidaten in einem umfänglichen Internetregister namens Excelencias charakterisiert und eine Aufklärungskampagne unter das Motto gestellt: Votiert nicht für Politiker, die Dreck am Stecken haben. Gemeint sind Männer und Frauen fast aller Parteien; doch nur die Arbeiterpartei Lulas reagierte ärgerlich.
Abramo, womöglich Brasiliens führender Korruptionsexperte, hat den Regierungsskandal bis ins Detail verfolgt: »Ja, es geht dabei um Stimmenkauf, um illegale Geldtransaktionen zwischen der regierenden Arbeiterpartei sowie Parteien und Parlamentariern, die der sogenannten Regierungsbasis im Nationalkongreß angehören. Die Angeklagten erfanden eine Story, wonach es sich lediglich um unsaubere Wahlkampffinanzierung, schwarze Wahlkampfkassen, gehandelt habe. Doch man muß immer wieder hervorheben – diese Story ist eine reine Erfindung. Es geht um Korruption zwischen der dominierenden Partei der Lula-Regierung und Kräften im Parlament, die man eben bearbeiten, gefügig machen muß, um die nötigen Mehrheiten zu garantieren.«
Abramo bringt es auf, daß Lula öffentlich erklärt, von all dem nichts gewußt zu haben. »Das ist eine weitverbreitete Haltung in Ländern, wo man stets vor der eigenen Verantwortung flieht. In Staaten wie Deutschland ist politische Verantwortung klar definiert – doch in Brasilien eben nicht. Hier haben wir so etwas im öffentlichen und im privaten Sektor – eine schlechte Sache, aber leider für Brasilien charakteristisch. Der oberste Verantwortliche erklärt sich nicht verantwortlich für das, was in seinen Strukturen, in seinem Laden passiert.«
Abramo macht sich keine Illusionen über den Erfolg der Aufklärungskampagne. Drei Viertel der erwachsenen Brasilianer sind laut neuen Studien aufgrund ihres Bildungsniveaus nicht in der Lage, einen simplen Zeitungs- oder Buchtext zu lesen und zu verstehen. Wie Umfragen ergaben, haben die allermeisten daher auch gar nicht begriffen, um was es bei dem Regierungsskandal eigentlich ging.
Laut Abramo gibt es in Brasilien etwa 750000 NGO – doch Transparencia Brasil mit nur sieben festen Mitarbeitern habe die größte Verbreitung, werde am meisten angeklickt. »Wir finanzieren uns schlecht und recht über Mitgliedsbeiträge von dreißig Real monatlich, machen Projekte gemeinsam mit dem Staat, auch mit der Lula-Regierung, mit Gouverneuren und Präfekten der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei PSDB. Kurios, wenn uns daher die einen als PTler, die anderen als PSDBler beschimpfen. Wenn wir von beiden Seiten attackiert werden, machen wir offenbar irgendetwas richtig.«
Auch in Deutschland haben sich vielerorts die Kriterien dafür verschoben, was »links« und »progressiv« ist. Zwar wird Staatschef Lula nicht müde, immer wieder öffentlich zu betonen, niemals der Linken angehört zu haben und dies durch seine Politik, etwa bei den Menschenrechten, bei Bildung und Sozialem, der Umwelt, auch deutlich zu unterstreichen. Doch kurioserweise hat offenbar gerade der Stimmen- und Parteienkaufskandal nicht wenige europäische Beobachter dazu veranlaßt, in Lula einen aufrechten Linken zu sehen. Denn just seit der Korruptionsskandal – vor dem Hintergrund der Enthüllungen und Ermittlungen kocht –, häufen sich in Deutschland bizarre Analysen, daß es sich bei Lula um einen Linken und bei seiner Regierung um eine Linksregierung handelt. Stimmen- und Parteienkauf sowie alltägliche Folter, ge wöhnlich an den Ärmsten der Armen praktiziert, gelten damit offenbar als Kriterien für Progressivität.
Unterdessen hat Brasiliens Oberstes Wahlgericht Staatschef Lula verurteilt, wegen illegaler vorgezogener Wahlpropaganda umgerechnet über 300000 Euro Bußgeld aus der eigenen Tasche zu zahlen. Gemäß einer Erhebung der größten Qualitätszeitung Folha de São Paulo haben Brasiliens Pflichtwähler weiterhin ein starkes konservatives Profil. Danach definieren sich 47 Prozent als rechts, während sich 23 Prozent zur politischen Mitte und dreißig Prozent zur Linken rechnen.
Vor dem Hintergrund der oft politischer Fiktion entsprungen scheinenden Regierungsskandale bemerkte jetzt der Wirtschaftswissenschaftler und Kolumnist Gustavo Ioschpe in der Folha de São Paulo: »Wäre Brasilien ein ernstzunehmendes Land, dürfte Lula nicht mehr im Amt sein. Und wäre er noch im Amt, dürfte er nicht erneut kandidieren. Und falls er für eine Wiederwahl kandidierte, dürfte er nicht an der Spitze der Wählerumfragen stehen.«
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