Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Verlorene Welt

von Nadja Klinger

Ein Fernsehteam der Abendnachrichten streift durch ein Jobcenter. Im Foyer trifft es auf eine Menschenschlange. Die Rede ist von Arbeitslosen, von Zahlen. Indes zeigt die Kamera von den Wartenden im Foyer nur Hintern und Füße.
Wem gehören die? Menschen, die geduldig warten? Die wissen, worauf sie warten? Die seit Jahren warten? Was ist mit dem Geld, das der Staat diesen Menschen monatlich zugesteht? Reicht der sogenannte Bedarf, um ein würdevolles Leben zu führen? Kommt einer von ihnen damit klar? Gilt das dann auch für alle anderen?
Es ist nicht so, daß niemand diese Fragen stellt. Man kommt gar nicht umhin. Man braucht nur auf die Straße zu gehen, jemanden aus der Menge zu fischen, zu bitten: Erzähl mal! Doch man erfährt kaum mehr als aus dem Bild voller Hintern und Füße. Die Betroffenen schweigen.
Eigentlich setzt Hartz IV auf mehr Kommunikation. Ein Amtsmitarbeiter betreut weniger Arbeitslose als früher. Er soll sie kennenlernen, um sie auf Trab zu halten. Das Kennenlernen geht so: Einer packt aus, offenbart Privatleben, gibt Besitz preis, dann sieht der andere, was er tun kann. Der Arbeitslose soll ehrlich sein. Er soll beweisen, daß er finanzielle Hilfe braucht, quasi das Unvermögen darlegen, sich selbst zu versorgen. Er unterschreibt ein Papier. Es nennt sich Eingliederungsvereinbarung. Er soll eingegliedert werden. Wo befindet er sich im Moment? Draußen. Wenn er Maßnahmen ablehnt, drohen ihm Strafen. Er hat sich dem staatlich verordneten Bedarf an Geld und Wohnraum anzupassen. Man kennt sein Konto, schnüffelt in seinem Badezimmer, besichtigt das Bett. Hartz-IV-Stasi werden die Kontrolleure von den Kontrollierten genannt. Dabei sind es Menschen, die, wie es gemeinhin heißt, »auch nur ihre Arbeit tun« Die Regierung sagt: »zumutbare Arbeit«. Der Ton macht die Musik.
Wenn die Politik sich Arbeitslosengeld-II-Empfängern widmet, tut sie das auf der Basis von Mißtrauen. Debatten klingen, als drehten sie sich um einen Kampfeinsatz im Feindesland. Freundlichere Abstimmungsergebnisse machen Feindseligkeit nicht wett. Sie wird empfunden. Wie ein Virus befällt sie das Land. Als Erstes killt sie das schlechte Gewissen.
Am Ende des Winters haben Energieunternehmen der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, daß Wohnungen nicht beheizt wurden. Kalte Wohnungen sind so etwas wie Tatorte. Halten sich die Bewohner woanders auf, kassieren aber vom Amt die Miete? Ich habe im Winter überall im Land Arbeitslosengeld-II-Empfänger besucht. Auf ihren Sofas sitzend habe ich elendig gefroren. Sie drehen ihre Heizungen nicht auf. Herdplatten schalten sie nur am Wochenende ein. Sie verwenden Wasser, unter dem sie geduscht haben, als Klospülung. Wird die Bundesagentur bald Meldung von Wasserwerken bekommen? Das Virus Feindseligkeit hat sich längst von den Jobcentern übers Land ausgebreitet. Ob es um Mietzuschüsse geht, um die 345 Euro Grundsicherung oder ums Elterngeld, immer heißt es: »Das öffnet dem Mißbrauch Tür und Tor.« Der Satz wird wie ein Schlachtruf gebraucht. Denn vor Türen und Toren stehen Menschen, die, öffnet man ihnen auch nur einen Spalt, gnadenlos einheimsen. Es sind dieselben Menschen, denen der Staat auf keinen Fall so etwas wie bedingungsloses Grundeinkommen zum Leben geben darf! »Keiner ginge dann mehr arbeiten«, sagte neulich Lothar Späth. Neben ihm saß der Unternehmer Götz Werner, Chef der Drogeriekette dm. »Warum denken Sie so schlecht von den Menschen?«, fragte er den CDU-Mann.
Um besser von ihnen zu denken, müßte man sie kennen. Will ein Journalist mit ihnen reden, wird der Wunsch von der Geschäftsführung des Jobcenters über Teamleiter und Berater an die Arbeitslosen weitergereicht. So kämpften sich in den vergangenen Wochen Anfragen von mir durch sieben Ämter rund um Berlin. Alle teilten mit, daß niemand mit mir reden wolle. Der Pressereferent von Frankfurt (Oder) sagte, vor eine Fernsehkamera bekomme er schon lange niemanden mehr, in Rundfunkinterviews auch nicht. Nur Zeitungen hätten manchmal Glück.
Können sich schweigende Arbeitslose besser fühlen? Werden sie vom Amt, das sich diskret verhält, wirklich beschützt? Wir wissen doch, daß sie nichts mehr auf den Konten haben, auf wieviel Raum sie maximal leben und für wie wenig Euro sie im Monat einkaufen können. Daß sie sinnlos Bewerbungen schreiben. Tausende Arbeitslose hat jedes Jobcenter zu bieten: keine Gesichter, nur eine Masse. In der Masse verschwinden die Nöte des einzelnen. Es lassen sich gut Mutmaßungen anstellen.
Einige Male habe ich bei Amtsmitarbeitern gesessen. Jeder Arbeitslose, der eintrat, wurde gefragt, ob ich bleiben dürfe. Die Leute musterten mich. Ich sagte, daß es wichtig wäre, wenn die Öffentlichkeit mehr über ihr Leben wüßte. Ich versprach, keine Namen zu nennen, den Ort zu fälschen, die Zeit, das Wetter. Ich redete, als wären wir alle auf der Flucht. Die Leute rangen mit sich. Oft trat ich von selbst den Rückzug an. Wartete auf dem Flur. Ich wollte sie vor mir, vor der Gesellschaft, beschützen.
Dann habe ich es in Schuldnerberatungen versucht. Über drei Millionen deutsche Haushalte sind überschuldet. Die Zahl der Menschen, die private Insolvenz anmelden, steigt. Ich holte mir bundesweit Absagen.
Das Wissen, das die vielen Schuldner mit sich herumtragen, gehört nicht zum Allgemeingut. Sie schlagen sich mit Inkassofirmen und Gläubigern herum. Die wollen Geld, das ihnen zusteht. Die Methoden, mit denen sie es selbst von Leuten zu holen versuchen, die nichts besitzen, sind gesellschaftlich gebilligt. Die meisten Menschen wissen nicht, daß sie sich mit Inkassofirmen nicht einlassen müssen, weil sie dort keine Schulden haben. Sie wissen nicht, daß sie Gläubigern nicht die Tür zu öffnen brauchen. Sie sind eine Masse abseits der Gesellschaft wie Arbeitslose. Es gibt keinen Draht zu ihnen, über den man sie, bevor sie verzweifelt in Beratungsstellen aufschlagen, über ihre Rechte informiert. Mit Mahnbescheiden, Klagen, Pfändungen läßt die Gesellschaft jeden von ihnen wissen, daß er versagt.
Wo Kommunikation nicht klappt, kann der Journalist vermitteln. Was aber, wenn er Menschen, die in seinen Texten vorkommen, keinen Gefallen tut? Sie haben unsichere Jobs zu verlieren, die letzte Kundschaft, die wackelige Position auf dem Arbeitsmarkt. Auf der Suche nach Menschen, die vielen schlecht bezahlten Jobs auf einmal nachgehen, um Geld zum Leben zu haben, zog ich durch Arztpraxen, Physiotherapien. Stundenkräfte standen hinterm Tresen. Sie kellnerten, putzten, bewachten Galerien, um dazuzuverdienen. Sie flüsterten, wenn sie erzählten. Warnten mich davor, etwas aufzuschreiben. Sie sagten, es ginge ihnen gut. Sie hätten ein Ziel: niemals auf dem Amt zu landen. Nicht zu denen zu gehören, die sich dort nackig machen. Zu dieser Masse.
Nachts sprach ich auf Baustellen mit schlecht bezahlten Männern vom Wachdienst. Sie berichteten. Ich sagte, daß ich von der Zeitung bin, da wurden sie still. Ich landete in einem Café, dessen Besitzerin ich kannte. Sie hatte einst den Mut, über Schwarzarbeit zu reden. Nun wollte ich ihre Kellnerinnen sprechen. Um zu überleben, gingen die noch anderen Jobs nach. Ich veränderte die Namen, entstellte Geschichten. Unter miesen Kommunikationsbedingungen kann keiner wissen, was die Wahrheit ist.
Eine Kellnerin bekam als Fotografin Aufträge von renommierten Zeitungen. Die Honorare waren ein Witz, das Geld, das sie im Café erarbeitete, ging für die Reportagereisen drauf. Sie arbeitete, um arbeiten zu können, und redete nur, um mir bei meiner Arbeit zu helfen. Ein Jahr ist es her, daß ich über sie schrieb. Jetzt, da ich an diesem Text sitze, ruft eine ZDF-Redakteurin an. Sie plant eine Sendung, in der Leute wie die Kellnerin zu Wort kommen sollen. Sie fragt, was ich Kollegen auch immer frage: »Meinen Sie, ich könnte mit ihr noch mal sprechen?«
Jeden Schuldner, jeden armen Menschen, der sich ins Fernsehen oder in die Zeitung wagt, muß der Journalist, der ihn dazu gebracht hat, beschützen. Vor anderen Journalisten, letztlich vor sich selbst. Eine Arbeitslose, über die ich schrieb, ließ danach ihre Nummer aus dem Telefonbuch streichen. Die Anrufer, meine Kollegen, waren nicht unfreundlich zu ihr. Sie boten Geld. Die Frau fragte höflich, was sie zu tun hätte. Sie sagte: »Ich fühle mich einsamer als vorher. Wie ein Tier in der Vitrine im Zoo.« Sie sollte immer wieder ihr Leben, stets dasselbe erzählen. Als gäbe es nicht fünf Millionen Arbeitslosengeschichten.
Seit Hartz IV ist es dringend nötig, daß man sich im Land über das würdevolle Leben verständigt, das man miteinander führen will. Selbst die in Kommunikation geübten Medien dringen zum Problem nicht vor. Ihr Blick ist der beschämende Blick des Starken auf die Schwachen, auf die, die nicht recht an der Gesellschaft teilhaben können. Einer viel zu großen Masse von Menschen, weit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen, bleibt nur Scham als Selbstgefühl.
Ein Mann aus Wiesbaden, der mir im Winter erzählte, wie er mit Frau und zwei Kindern vom Arbeitslosengeld II lebt, und mich das hat veröffentlichen lassen, schrieb mir gerade einen Brief. Er schrieb, daß er und die Frau kleine Jobs gefunden haben. Er rechnete vor, wie viele kleine Jobs sie noch bräuchten, damit sie nicht mehr aufs Amt müssen. Es war eine Art Abschiedsbrief. »Wir brauchen noch 700 Euro«, triumphierte er. »Dann schreibt nie wieder jemand eine Geschichte über uns.«