Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 7. August 2006, Heft 16

Unzeitgemäße Wahrheit

von Maria Szyszkowska, Warschau

Meine Geduld ist am Ende. Ich habe genug vom Spott über die Nachkriegszeit. Der Enthusiasmus, der den Wiederaufbau Polens aus den Ruinen begleitete, sollte eher als Vorbild empfohlen werden. Nachahmenswert ist auch die geistige Haltung derjenigen, die die Volksrepublik Polen schufen. Was nicht bedeuten soll, daß die marxistische Ideologie etwa für alle verpflichtend sein könnte. Doch deren Anhänger brauchen heute nicht in Sack und Asche gehen, sie können stolz darauf sein, daß in unzähligen Ländern diese Richtung sich ausbreitete. Keinen Zweifel hege ich, daß die heutige Gedankenlosigkeit, die hinter den allgemeinen Erklärungen über den Katholizismus versteckt ist, für die psychische Gesundheit des einzelnen und der Gesellschaft weniger dienlich ist als die frühere Ideologie. Die Stalinzeit nehme ich ausdrücklich aus.
Hohn und Spott über unsere jüngste Vergangenheit sind eintönig. Sie sind abgeschmackt, oberflächlich und sollen ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den Fehlern des aktuellen Systems ablenken. Nicht hinzunehmen ist, wenn im Fernsehen die Wiederholung früherer Kino-Wochenschauen regelmäßig zum Anlaß genommen wird, die VRP zum Gespött der Leute zu machen.
Das in den Medien allgemein vorherrschende Herangehen an unsere jüngst vergangene gesellschaftlich-politische Wirklichkeit streicht wertvolle Lebensjahre nicht weniger Menschen. Die VRP zu beurteilen setzt voraus, sich über seine persönlichen Verletzungen hinwegzusetzen, bereit zu sein, diesen Zeitraum in seiner ganzen Verwickeltheit anzunehmen. Die Vorteile des damaligen Systems sind angesichts der Nachteile des polnischen Kapitalismus, den eine Mehrheit in der Gesellschaft nicht gewollt hat, postum augenscheinlich geworden.
Im öffentlichen Leben wird das trügerische Bild Polens der Jahre von 1956 bis 1989 immer gewichtiger. Die Jugend wird mit Info-Materialien des nationalen Erinnerungsinstituts gespeist, die häufig nichts weiter als Karikaturen des Lebens unserer Gesellschaft in jenen Jahren sind. So erfährt man dort etwa, daß die Erholungsheime der Gewerkschaften bewußt als Mittel der ideologischen Beeinflussung der Gesellschaft geschaffen wurden, nicht aber als Einrichtungen, die praktisch jedem einen preiswerten Erholungsaufenthalt ermöglichten. Indem die Volksrepublik lächerlich gemacht wird, fällt es leichter, Ansichten zu verbreiten, die mit den herrschenden Interessen übereinstimmen. Und es fällt leichter, gegen antikapitalistische und globalisierungskritische Ansichten immun zu machen.
Es leben gegenwärtig viele Millionen Polen, die dank der Agrarreform und der Industrialisierung in der VRP die Möglichkeiten erhielten, sich zu bilden und in die Städte zu ziehen, wo sie sich beruflich entwickeln konnten. Deren Sicht auf die positiven Seiten der VRP wird durch die Medien nicht wahrgenommen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist nur Platz für die Ansichten derjenigen, die ihre negativen Erfahrungen aus der damaligen Zeit auf die Gesamtheit des Lebens in der VRP beziehen. Hier anzumerken, daß ich bemüht bin, so objektiv wie möglich zu sein, halte ich für notwendig. Denn ich persönlich habe von dem damaligen System nicht profitiert, so wie ich auch jetzt nicht profitiere.
Der Patriotismus, den wieder zu beleben die jetzige Regierung sich vorgenommen hat, darf in keinem Fall durch die Rechte vereinnahmt werden. Patriotismus ist ein Wert, der linke und rechte Richtungen eigentlich bewegen sollte, Handlungen im Interesse einer Mehrheit vorzunehmen. Patriotismus zwingt also dazu, die positiven Seiten der VRP zu schätzen und die junge Generation im Geiste der Achtung vor den Leistungen der Großeltern und Vorfahren zu erziehen.

Aus: »Trybuna«, 22./23. Juli 2006, aus dem Polnischen von Holger Politt. Die Rechtsphilosophin, 2001 bis 2005 Mitglied des Senats, war in der VRP viele Jahre Repressalien ausgesetzt; heute Professur an der Uni Warschau