Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Brüsseler Kolportage

von Èmile Sagan

Ein verdammt schwüler Tag. Im Rundfunk werden Kinder, alte Leute und Herzkranke wegen der hohen Ozonwerte vor allzu großer Anstrengung gewarnt. Ich fühle mich keiner Gruppe zugehörig, schwitze trotzdem und wühle mich zudem fleißig durch die Brüssler Innenstadt. Nur ruckweise geht es mit dem Auto vorwärts, entlang dem Boulevard de Waterloo.
An der Einfahrt zum Europäischen Parlament, das wir über die Rue Belliard erreichen, wartet die morgendliche Überraschung: Wir sind neu hier und wissen vorher nie genau, ob uns die gewichtigen Leute vom Sicherheitsdienst die Zufahrt gestatten. Jeder Tag offenbart eine andere Prozedur: Mal reichen unsere Akkreditierungen aus, mal müssen wir Formalitäten erledigen, um an eine spezielle Berechtigung zu gelangen. Meine Begleiterin vermutet, daß das mit dem internationalen Terrorismus zusammenhänge. Wie Leute von Al-Khaida sehen wir aber nicht aus, schnaufe ich gereizt. Sie grinst. Mir sei wirklich nicht anzusehen, welcher Terrorzelle ich angehöre. Witzig, denke ich, und klemme den Passierschein hinter die Windschutzscheibe.
Wenige Stunden später holt mich der unterirdische Wortwechsel wieder ein. Die über siebenhundert Parlamentarier streiten darüber, ob der im Januar dieses Jahres einberufene CIA-Untersuchungsausschuß nun weiter nach Indizien suchen soll. Die Konservativen sträuben sich, weil sie hinter dem Ausschuß eine Säule des aufkeimenden europäischen Antiamerikanismus vermuten. Bislang habe der Ausschuß keine Beweise zu Tage befördert, behaupten sie. Der Berichterstatter sieht das völlig anders und zitiert in seinem Zwischenbericht die Fakten. Und ich könnte wetten, daß tags darauf das Ende der Ausschußarbeit beschlossen wird.
Abends ist es noch immer sehr schwül, und wir schlängeln uns entlang dem Parc Leopold hin über Schleichpfade zum Jourdanplace. Halb im Quadrat erklimmen wir Meter um Meter der schadhaften Straße, die Stoßstange des Vordermanns im undurchdringlichen Gewühl immer fest im Blick. Brüssel, habe ich gehört, beklage jedes Jahr im europäischen Vergleich die meisten Verkehrstoten. Kolportiert wird zudem, daß viele Bürger der Stadt ihre Führerscheine als Gegenleistung für den Einfall der Eurokraten quasi zum Nulltarif erhalten haben. Ich bezweifle den Wahrheitsgehalt der Geschichte und ertrage dafür das Hupen meines Hintermannes. Schließlich sind wir alle Europäer – und ich bin nicht nachtragend.
Am Rand des Platzes entdecken wir eine ältere dunkelhäutige Frau, die sich mit einer Sammelbüchse vor einem Geschäft postiert hat. Die Frau wendet plötzlich ihren Blick von den Passanten und schaut für einen kleinen Moment zu uns herüber. Sie hat unsere Neugier bemerkt und schenkt uns ein sanftes Lächeln. Wir lächeln unsicher zurück. Meine Begleiterin, eine Fotoreporterin, ärgert sich, daß sie ihre Kamera im Büro liegengelassen hat. »Morgen werde ich sie fotografieren.«

*

Der nächste Tag beginnt mit einer Überraschung: Der Untersuchungsausschuß darf doch seine Arbeit fortsetzen, die konservativen Parlamentarier erleiden eine deftige Abstimmungsniederlage. Der italienische Sozialdemokrat Giovanni Claudio Fava wird nach Bekanntgabe des Ergebnisses von seinen Freunden derart gefeiert, daß man den Eindruck gewinnen muß, er habe den Vormarsch des aufkeimenden Neokonservatismus im parlamentarischen Alleingang stoppen können. Einige deutsche Fraktionskollegen zieren sich allerdings und wollen die ausgelassene Freude nicht so recht teilen. Ob das mit der Teilhabe an der Macht in Deutschland zusammenhängt? Schließlich wird der Ausschuß auch über die Rolle von Außenminister Steinmeier zu befinden haben. Eine peinliche Geschichte. Dann aber schäme ich mich meiner abwegigen Konstruktion und schiebe den Gedanken auch gleich wieder, verschämt und klammheimlich, beiseite.
Später, als wir wieder den Jourdanplace passieren, hält meine Begleiterin Ausschau nach der dunkelhäutigen Frau mit der Sammelbüchse. Sie hat die Kamera dabei, und wir haben uns vorgenommen, die Frau erst um Zustimmung bitten zu wollen. Die Enttäuschung ist groß, als wir sie nicht entdecken. Wir machen uns sogar ein wenig Sorge, daß etwas geschehen sein könnte. Ausgerechnet heute, wo alles anders zu laufen schien, haben wir uns auf das fremde, dennoch so vertraute Gesicht gefreut.
Der nächste Tag zerstört die aufkeimende Illusion, die Welt um Europa bewege sich nun doch plötzlich nach anderen, uns genehmeren Gesetzen. Im Parlament werden wir unsanft auf den Boden der Realität zurückgeholt: »Die Tatsache, daß wir heute in Mittel- und Osteuropa Freiheit, Bürgerrechte und Toleranz vorfinden, ist die Folge davon, daß der Kommunismus unseren Kontinent nicht zu beherrschen vermochte«, erklärt der polnische Abgeordnete Maciej Marian Giertych. »Und er hätte ihn beherrschen können. Polen hat Bolschewismus erlebt und die katholische Kirche wurde unterdrückt.« Die Linken in Spanien, die vor dem Bürgerkrieg im Amt waren, hätten sich so verhalten wie die Bolschewiken. Ganz viele ihrer Gegner wurden ermordet, auch Geistliche. »Dank der spanischen Armee und der Generale, dank General Francos, konnte der Angriff auf die katholische Kirche eingedämmt werden. Damit konnte auch ein kommunistisches Übergreifen auf andere Staaten verhindert werden. Franco, Salazar und andere haben Europa geschützt für die traditionellen Werte: Sie sind große Staatsmänner. Und wir müssen heute ihrer entsprechend gedenken, wir müssen daran denken, was die katholischen Werte gegenüber den sozialistischen sind.«
Im Parlament herrschte zunächst Totenstille, dann protestierte der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Martin Schulz, namens seiner Kollegen: »Das, was wir gerade gehört haben, ist der Geist von Herrn Franco«, sagt Schulz. »Es war eine faschistische Rede, die im Europaparlament nichts zu suchen hat.« Der Chef der konservativen Fraktion EVP, Hans-Gert Pöttering, versucht dann noch den Anker in die andere Richtung zu werfen. »Wir halten Diktatoren und Anhänger eines diktatorischen Regimes, sei es des Faschismus, des Nationalsozialismus, des Kommunismus, nicht für geeignet, unsere Ideale zu verteidigen. Wir verteidigen unsere Ideale mit unseren eigenen Überzeugungen.«