Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Wie quert man heute einen Hauptbahnhof?

von Harald Pätzold

Amok. Attentat. Wie quert man heute einen Hauptbahnhof? Der Schriftsteller und Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929, hat einen Text von knapp fünfzig Seiten darüber geschrieben.
Wer den Titel liest, weiß alles. Männer, Verlierer, Radikale sind die Träger des Schreckens. Schreckens Männer. Banal in der Sache, aber glänzend erzählt. Brillant, leicht, hübsch. Enzensberger als intellektuelles Blondchen? Folgt man den Großrezensenten des deutschen Feuilletons, möchte man das am Ende noch glauben. Ich empfehle, den Text als Drama zu lesen.
Menschen, Männer zumeist, landen auf der Verliererseite des Lebens. Manch Opfer, Verlierer, Versager, Besiegter nimmt diese Rolle an und wird »unsichtbar«, wartet ab, bis er, aus banalem Anlaß, »ausrastet«, explodiert. Die Wissenschaft hat das alles bestens erforscht, und es werden Vorkehrungen getroffen. Enzensberger aber sagt: Wir wissen alles und verstehen es nicht. Schlimmer noch: Niemand kann es verhindern.
Eine wahrhaft dramatische Situation, die sich im Text zur handfesten Tragödie auswächst. Denn weder kann der »radikale Verlierer« als einzelner sich seinem Schicksal entziehen, noch kann die bedrohte Gesellschaft dies.
Alle Wissenschaft und Sozialpädagogik oder Kriminalistik können den radikalen Verlierer nicht fassen, er ist letzten Endes unberechenbar. Nicht einmal auf den Selbsterhaltungstrieb kann man setzen.
Doch es gibt einen Ausweg: Massenbewegungen nehmen gern radikale Verlierer auf. Das Drama gewinnt damit welthistorische Größe. Durch den Niedergang der Massenbewegungen nach Ende des Weltsozialismus nimmt die Sache eine neue Wendung. Zwar existieren noch Meuten, Warlords und revolutionäre Kommandos, es bleibt aber nur eine globale Massenbewegung übrig: der Islamismus. Enzensberger erklärt den Rückstand der arabischen Welt, die Vergeblichkeit des Dialogs wie der polizeilichen Gewalt. Der Tragödie Schluß ist, daß wir es nun nicht mehr nur mit Amokläufern und Attentätern oder mit Massenmorden im Namen politischer Religionen zu tun haben, sondern mit Selbstmordattentätern, die in der Regel das Massensterben der eigenen Leute inszenieren.

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006, 53 Seiten, 5 Euro