Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Wenn einer eine Reise tut …

von Ursula Malinka

Während sich die Parlamentarier, vor allem die regierenden Abgeordneten, beeilten, während des allgegenwärtigen Fußballrausches noch alles Mögliche vor der Sommerpause wie nebenbei durchzuhuschen, war ich schon auf Reisen. Fünfhundert Kilometer brachte ich zwischen mich und meinen Wohnort, um in den Bayerischen Voralpen für ein paar Tage den Alltag zu vergessen.
Das Wetter war wunderbar, und wir machten uns auf, einen der besten Aussichtsgipfel der Gegend zu erobern. Auf dem Weg waren wir, wie schon die Tage zuvor, ganz allein unterwegs, nur die in voller Blüte stehende Natur trug immer neue Schauspiele vor. Schließlich waren wir auf dem Gipfel, beobachteten einen umherflatternden Schwalbenschwanz, nahmen unsere mitgebrachte »Brotzeit« und aalten uns in der Mittagssonne.
Fast waren wir schon im Aufbruch für den Abstieg, als neue Wanderer ankamen. Ein sehr redseliger Mann verwickelte uns umgehend in ein langes Gespräch, nein, das war es nicht wirklich, eher eine Ansprache, unterbrochen von rhetorischen Fragen. Also eigentlich war es ein Monolog, in den der Mann gekonnt die Gegebenheiten des Auf-dem-Gipfel-Stehens ebenso wie das Wetter und die Fußball-WM einbezog.
In dieser Art verkündete er, was er gerade in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen hatte. Von den ungeheuren Schulden sprach er, und fragte, ob ich denn wisse, wieviele Millionen das seien. Mein Einwurf lautete: »Millionen? Billionen!« Für dieses Wissen wurde ich genauso gelobt wie für den Umstand, daß ich auf dem Berge stand und nicht die Figur eines Fasses habe. Um wieder auf die Schulden zurückkommen zu können, verdammte er die Supermärkte dafür, daß sie zur WM billige Angebote machten, Bier und Fanartikel, die sich sogar der Hartz-IV-Empfänger leisten könne. Und wer bezahlt das? Der Staat mit neuen Schulden, der Steuerzahler, der brave Bürger, der ackert, damit die Hartzer in der sozialen Hängematte liegen können. Und dann wieder der Blick in die herrliche Bergwelt. Aber damit ist es auch bald vorbei, denn die Bauern lassen ihre Kühe nicht mehr auf die Almen, weil sie viel mehr verdienen können, wenn sie die Tiere im Stall stehen lassen, so werden die Bergwiesen bald nicht mehr da sein, überall wird sich der wilde Rhabarber ausbreiten, und die Blumen werden verschwinden, schließlich verbuscht alles. Daß so der natürliche Lauf ist, wenn der Mensch nicht eingreift, erwähnte er nicht.
Wir waren ständig auf dem Sprung, dieser Tirade zu entkommen, doch dauerte es fast eine dreiviertel Stunde. Dabei war der Mann freundlich, lobte unser Völkchen, das sie vermißt hätten, unsere Herkunft war unschwer beim Reden auszumachen, wie auch die seine aus dem tiefen Westen. Er brachte sogar zum Ausdruck, daß er sich freue, uns getroffen zu haben, wie angenehm es gewesen sei, sich mit uns zu unterhalten, und daß er uns hoffentlich nicht zu lange aufgehalten habe. Nebenbei hatten wir auch erfahren, daß er schon pensioniert ist, seine Frau, die auch mit war, fragte uns nach einer ostdeutschen Bürgerrechtlerin, deren Namen wir noch nie gehört hatten, deren Buch über die Gegend, in der wir aufeinandertrafen, sie gerade gelesen hatte.
So kann’s gehen, wenn man ein wenig Selbstfindung betreiben will. Der Alltag, von dem wir uns weit entfernt hatten, der von hier, nach einem Anstieg, der keine Gedanken an irgendetwas anderes zuläßt, als diesen Berg zu bezwingen, auf einem Berg stehend, unendlich weit weg scheint, hatte uns gerade dort erreicht, wo wir ihn so gar nicht erwarteten.
Unsere Wirtin winkte uns zum Abschied, ich winkte zurück. Sie hofft, daß wir wiederkommen – wir auch.