Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Schwieriges Jubiläum

von Gertrud Eggert, Peking

Als sich vor vierzig Jahren, im Frühsommer 1966, einige Dozenten der Peking-Universität mit einem Aufruf »gegen die Kapitalisten in der Partei« zu Wort meldeten, nahm Mao Zedong dies zum Anlaß, um seine Große Proletarische Kulturrevolution zu entfachen – eine »Revolution«, die von vielen Chinesen heute als dunkelstes Kapitel ihrer Geschichte betrachtet wird.
Am Anfang gingen Schüler und Studenten gegen ihre vermeintlich parteifeindlichen Lehrer vor. Dann verfolgten Mitarbeiter im Partei- und Verwaltungsapparat ihre zu »Abweichlern« gestempelten Vorgesetzten. Arbeiter bildeten »Rote Garden« und »probten den Aufstand«. Am Ende wußte niemand mehr, wer »links« war und wer »rechts« und »konterrevolutionär«. Jeder führte seinen »eigenen« Kampf.
Niemals zuvor in der chinesischen Geschichte ist so viel an chinesischer Kultur und Tradition zerstört worden wie in den kurzen zehn Jahren dieser »Kulturrevolution«. Millionen von Menschen wurden gedemütigt, geschlagen und ermordet. Zum Schluß war das Land international isoliert, die Wirtschaft zerrüttet, das gesellschaftliche Leben lahmgelegt, die Bevölkerung desillusioniert und am Ende ihrer geistigen und physischen Kräfte. Jahrelang hatten die Menschen in ständiger Anspannung und Angst gelebt. Der auch für China beispiellose Machtkampf in der Spitze der Kommunistischen Partei hatte vor nichts und niemandem haltgemacht – vor den Intellektuellen nicht, nicht vor der riesigen Schar der unteren und mittleren Kader, die das Rückgrat des antijapanischen Befreiungskrieges 1937 bis 1945 und der 1949 siegreichen Volksrevolution gebildet hatten, und auch nicht vor dem Staatspräsidenten Liu Shaoqi. Die Wunden brennen bis heute.
Und dennoch herrscht Stille in der chinesischen Öffentlichkeit. Die offiziellen Medien sind mit Nachrichtenverbot belegt. Die Parteiführung erinnert lieber an andere »runde« Ereignisse wie den 85. Jahrestag der Gründung der KP Chinas oder den 70. Jahrestag der erfolgreichen Beendigung des »Langen Marsches«, mit dem sich Mitte der dreißiger Jahre die Revolutionsarmee unter Leitung der KP dem sicheren Untergang entzogen hatte. Diese Daten sind vorzeigbar, können die Autorität der KP und die Legitimität ihres Führungsanspruchs untermauern. An die »blutigen Fehler« in der Parteigeschichte aber will niemand erinnern. Man beruft sich auf den »Schlußstrich«, den die Partei noch unter der Führung von Deng Xiaoping, der selbst zu den Betroffenen der Verfolgungen gehörte, gezogen hat. Im Sommer 1981, fünf Jahre nach dem Ende der »Kulturrevolution«, »trennte« sie sich per Beschluß von den »linken Klassenkampf-Ideen« unter Mao Zedong und verschrieb sich pragmatischen Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen.
Und was – so meint man in der KP-Führung weiter – würde bei der Realisierung dieses neuen Kurses eine umfangreiche und detaillierte Aufarbeitung dieser Zeit der »klassenbewußten Ausgrenzung« und des »sozialen Chaos« heute nützen? Wo es doch um »Harmonie und Ruhe« in der Gesellschaft geht? Würden nicht alte Wunden und persönliche Intrigen vor allem unter denjenigen Menschen aufgerissen, die gerade die politische Macht und staatliche Verwaltung im Land übernehmen sollen? Also schwört die Parteipresse gerade in diesen Wochen die chinesische Öffentlichkeit wieder verstärkt auf »Stabilität und Reformen« ein.
Doch ganz so einfach ist das wohl nicht. Natürlich wird in der Bevölkerung über die »Kulturrevolution« diskutiert. Jeder Chinese, der heute mindestens vierzig Jahre alt ist, hat seine eigenen ganz persönlichen Erinnerungen. Und je mehr Zeit vergeht, um so nachdrücklicher wird die Frage gestellt nach einer Erklärung, nach Entschädigung, nach Aufarbeitung. Alte Parteikader und Intellektuelle sehen auch deshalb einen großen Bedarf an nachhaltiger Aufklärung, weil sich die politischen Rahmenbedingungen nicht wesentlich verändert haben: Die Machtstrukturen, die damals die »Kulturrevolution« hervorbrachten, bestehen im wesentlichen unverändert fort – nur werden heute privatkapitalistische Wirtschaftsreformen gefördert. Transparenz der politischen Entscheidungen, demokratische Kontrollmechanismen und ein unabhängiges Rechtssystem – all das fehlt in China heute wie damals.
Gewiß, die Parteiführung arbeitet heute ungleich professioneller und sachlicher, die chinesische Gesellschaft ist ungleich offener, selbstbewußter, moderner und pluralistischer in ihren Ansichten, Denk- und Verhaltensweisen als vor vierzig Jahren, und doch warnen Experten: Das geistige Vakuum, das die »Kulturrevolution« hinterlassen hat, sei nie wieder gefüllt worden. Junge Menschen wurden damals für vermeintlich fortschrittliche ideologische Ziele benutzt, dann fallengelassen und über Jahre hinweg einfach ignoriert. Das habe Spuren hinterlassen: Ganze Generationen seien desillusioniert und für Ideologien und Werte kaum mehr empfänglich. Die mit der Reform- und Öffnungspolitik aufgewachsenen Menschen wissen heute kaum noch etwas über die »Kulturrevolution«. Das Angebot, das Kultur und Literatur zu deren Geschichte unterbreiten, reicht nicht aus. Und die massenhaften antijapanischen Ausschreitungen junger Leute im Frühjahr letzten Jahres in chinesischen Großstädten machten deutlich, wozu der Mob auch heute fähig ist.