Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Palästina, drei Tage ohne Hoffnung

von André Brie

Treffen mit dem neuen Sprecher des Palästinensischen Legislativrates in Ramallah. Es ist ein etwas heikles Treffen, denn die EU lehnt jeden Kontakt mit der Hamas und ihren Politikern ab. Daran ändert auch nichts, daß offiziell nicht die Hamas, sondern die von ihr gebildete Change and Reform List zur Wahl angetreten war. In Deutschland, auch in meiner eigenen Partei, wird sich zwar erfahrungsgemäß niemand für meine Reise und meine Einschätzungen interessieren; aber ich habe oft genug erlebt, daß solche Einzelheiten bei Bedarf doch gern genutzt werden, von den einen, um aus der Solidarität mit einem geschundenen Volk eine antiisraelische oder gar antisemitische Haltung zu konstruieren, von den innerparteilichen Rechthabern, um ihre persönlichen Feindschaften zu pflegen. Aber wir sind uns einig, daß wir dieses Gespräch wollen und daß das Ergebnis der palästinensischen Wahlen respektiert werden muß. Aziz Duaek, der neue Sprecher des Palästinenserparlaments, ist ein orthodoxer Muslim, aber elegant und europäisch gekleidet. Er spricht englisch. Das Signal seines Mobiltelefons ist ein religiöser Gesang. Da er nicht bereit ist, Luisa, unserer Delegationsleiterin, die Hand zu reichen, verzichten auch wir Männer auf diese Geste. Nachdem er uns willkommen heißt und unsere konsequente Haltung gegen die Okkupation würdigt, liest er eine vorbereitete Rede ab, die sich wenig von dem unterscheidet, was wir vom Palästinenserpräsidenten Abu Mazen gehört haben. Israel habe die Politik gegen die Palästinenser in den vergangen Tagen noch mehr verschärft. Auch die USA oder der Hohe Repräsentant der EU Solana, obwohl sie sonst viel von Demokratie redeten, bestraften das palästinensische Volk für seine demokratische Wahlentscheidung. Vielen palästinensischen Parlamentariern seien Reisen im Land und ins Ausland verboten worden. Die Palästinenser seien gut gebildete Menschen, sie hätten sich bei den Wahlen bewußt und informiert für die Hamas entschieden. Die Road Map spreche von einem lebensfähigen palästinensischen Staat; aber inzwischen finde man kaum noch einen Quadratkilometer zusammenhängenden Landes dafür. Palästina sei durch die Mauern, Barrieren, Checkpoints und verbotenen Straßen in 64 Enklaven, Bantustans, fügt er hinzu, zersplittert.
Als wir ihn nach den Forderungen der EU auf Gewaltverzicht, die Anerkennung Israels und der internationalen Vereinbarungen fragen, meint er: »Wir sind die Opfer von Gewalt, deshalb können wir Gewalt nicht wollen. Die PLO (in der die Hamas nicht Mitglied ist) hat Israel anerkannt. Aber was hat das in den letzten fünfzehn Jahren gebracht? Nicht einmal unsere elementarsten Rechte sind respektiert worden, keine 24 Stunden Frieden hat das palästinensische Volk seitdem gehabt. Und was die Anerkennung der Vereinbarungen betrifft: Das ist nicht ein palästinensisches Problem. Israel anerkennt und respektiert sie nicht. Unsere Menschen hassen weitere Zugeständnisse an Israel, solange es nicht endlich auch Resultate für sie gibt. Wir wollen nicht mehr als ein unabhängiges Palästina in den Grenzen von 1967.«
Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Satz. »Da wir die demokratisch gewählten, legitimen Vertreter des palästinensischen Volkes sind, können wir auch eine Lösung erreichen, wenn man mit uns spricht und verhandelt. Sonst aber wird die Region noch mehr destabilisiert, wird es Radikalisierung statt Demokratisierung geben und Leid nicht nur bei uns, in der ganzen Welt, auch in Europa. Wir möchten das nicht, aber es würde die Realität sein.«
Ich weiß, daß er mit vielem recht hat; aber die Drohung und die Ablehnung der Rolle des ebenfalls gewählten Palästinenserpräsidenten Abu Mazen und der PLO sind offensichtlich.
Nachdem er sein Manuskript weggelegt hat, lernen wir einen anderen, weniger kontrollierten, auch leidenschaftlichen Aziz Duaek kennen, wohl den tatsächlichen, und bekommen zu spüren, wie aussichtslos Hoffnungen sind: »Sagen Sie mir mal: Wie lange dauerte der Holocaust gegen die Juden? Drei Jahre, vier, sechs? Der Holocaust gegen die Palästinenser dauert bereits sechs Jahrzehnte. Wir halten die Konzentrationslager der Nazis für die Juden für schlimm; aber wir haben hier 64 Konzentrationslager für die Palästinenser.« Wir widersprechen heftig der Gleichsetzung mit dem Holocaust und den KZ der Nazis. Aziz Duaek reagiert zynisch: »Aha, okay, wir leben also unter einer freundlichen Okkupation und in freundlichen Konzentrationslagern.« Er erzählt, daß er kürzlich auf Einladung des Europarates nach Strasbourg fahren wollte, aber von Frankreich keine Einreisegenehmigung erhalten habe: »Vertreter diktatorischer Staaten dürfen in die EU einreisen. Wir, die wir in anerkannten demokratischen Wahlen gewählt wurden, dürfen es nicht.« Wo er recht hat, hat er recht. Dennoch: Der Abschied fällt frostig aus.

*

Am Checkpoint nach Ostjerusalem fragt eine Soldatin lachend in unseren Bus: »How are you?« Luisa, die vorne sitzt, gibt die richtige Antwort: »Bad, very bad. We saw the wall.« In einer Broschüre der Menschenrechtsorganisation B’TSELEM, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, wird eine von tausenden alltäglichen Tragödien der Palästinenser dokumentiert: »Am 26. Februar 2002 mußte Samar Hamdoun zu einer medizinischen Untersuchung. Ihr Mann, Iyad, rief einen Krankenwagen, um sie in das Krankenhaus zu bringen. Der Krankenwagen kam zum Checkpoint ihres Dorfes Beit Furik; aber die Soldaten ließen ihn nicht passieren. Samar und Iyad nahmen daraufhin ein Taxi, um bis zum Krankenwagen zu fahren. Als sie 150 Meter vom Kontrollpunkt entfernt waren, forderten die Soldaten sie auf umzukehren. Aus Furcht, die Soldaten würden schießen, wenn sie weiterführen, kehrte das Taxi um und nahm einen weiten Umweg über unbefestigte Bergwege, um in das Krankenhaus nach Nablus zu kommen. Auf dem Weg begann Samar zu bluten und verlor das Bewußtsein. Was eine Zehn-Minuten-Fahrt gewesen wäre, wurde eine vierstündige Fahrt. Als Samar im Rafidiya-Krankenhaus ankam, war der Fötus durch eine geplatzte Plazenta tot.«

Die Reise fand im April statt – die Redaktion.