Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Max Stirner

von Maurice Schuhmann

Die Diskurse der Postmoderne haben der akademischen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Junghegelianers Max Stirner eine Renaissance beschert. Poststrukturalisten wie Michel Foucault und Jacques Derrida ebneten ihr den Weg. Die Rezeptiongeschichte von Stirners 1844 erschienener Arbeit Der Einzige und sein Eigentum zeichnet sich durch »lautstarke Verschwiegenheit« aus. Nicht nur Nietzsche übernahm, ohne Stirner auch nur zu erwähnen, viele Stirnerschen Gedankengänge, ähnlich verhielten sich Adorno und Horkheimer, die im Exkurs Juliette oder Aufklärung der Moral in ihrer Dialektik der Aufklärung ihn ungenannt ausbeuteten, von Heidegger ganz schweigen.
Johann Caspar Schmidt, so sein bürgerlicher Name, wurde vor zweihundert Jahren in Bayreuth geboren. Nach dem Studium an der Berliner Universität bei Hegel und Schleiermacher arbeitete Max Stirner, wie er wegen seiner auffällig hohen Stirn nun genannt wurde, als Privatlehrer. Seit dem Jahre 1841 tauchte er regelmäßig in der Kneipe Walburg und später in der Hippel’schen Weinstube auf, wo sich oppositionelle Intellektuelle um die beiden Brüder Bruno und Edgar Bauer als Kreis der Freien formiert hatten – darunter Ludwig Feuerbach und Friedrich Engels. Stirners dreiteiliger, 1842 in der Rheinischen Zeitung erschienener Beitrag Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung gilt bis heute als ein Klassiker der Alternativpädagogik und beeinflußte maßgeblich sowohl Rudolf Steiner als auch die antiautoritären Debatten der sechziger Jahre.
In seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum polemisierte Stirner in einer geradezu kühnen Weise gegen Hegel und die Junghegelianer, da sie ihm in ihrer Kritik am Hegelschen System nicht weit genug gingen. Stirner plädierte dafür, die Philosophie wieder auf das konkrete, sich selbst bewußte Individuum als Maß aller Dinge zurückzuführen. Sein programmatisches Leitmotiv Ich hab‚ Meine Sach‚ auf Nichts gestellt! entnahm er Goethes Gedicht Varitas! Vanitatum vantas! – ebenso seinen zentralen Begriff der »Eigenheit«, hinter dem sich der »Eigner« verbirgt. Es handelt sich dabei um die Rückbesinnung auf die Individualität und um die Anerkennung der Potentiale des einzelnen als Grenzpfosten der Freiheit. Stirner predigte einen existentialistischen Egoismus, der mit der Ablehnung jeglicher Werte, Prinzipien und Institutionen einhergeht, die dem Individuum übergeordnet sind. Lange vor Nietzsche entwertete Stirner alle Werte und erhob sich – philosophisch gefestigter als sein Vorläufer Marquis de Sade – zum Überwinder jeglicher Moral, die geeignet ist, das Individuum zu bedrücken.
In mehreren deutschen Staaten kam das Werk sofort auf den Index; in Sachsen dauerte das Verbot allerdings nur wenige Tage an. Das Buch wurde mit der Begründung wieder zugelassen, daß es zu absurd sei, um eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darzustellen. Auch seine Diskussionspartner ließen nicht lange auf sich warten. Ludwig Feuerbach, der Bruno-Bauer-Schüler Szeliga und Moses Hess griffen zur Feder. Karl Marx und Friedrich Engels schärften in der Deutschen Ideologie unter dem Titel Sankt Max ihre eigenen Positionen.
In den Folgejahren trat Stirner noch als Übersetzer und Herausgeber hervor. Sein Versuch, für Berlin eine Milchversorgung aufzubauen, bescherte ihm den finanziellen Ruin. Seine letzten Lebensjahre waren von Armut und Flucht vor den Gläubigern geprägt. Er starb in seinem fünfzigsten Lebensjahr und wurde in einem Armengrab auf dem Sophienstädtischen Friedhof in Berlin verscharrt. Erst Jahrzehnte später ließ die Stadt Berlin ihm ein »Ehrengrab« errichten.
Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts nahm sich der deutsch-schottische Literat John Henry Mackay seiner an. Er widmete Stirner den Sittenroman Die Anarchisten und verfaßte eine Biographie des Denkers. Fast zeitgleich begann eine neue Welle der Stirner-Rezeption. Ausgelöst durch die Nietzscherezeption in den neunziger Jahren stieß man bei der Suche nach Ursprüngen und Vorläufern auch auf Stirner.
Für die individualistische Strömung des Anarchismus, die Mackay und sein amerikanischer Freund Benjamin R. Tucker repräsentierten, zählte Stirner zu den Ahnen, während Anarchisten wie Piotr Kropotkin und Rudolf Rocker ihm eher sehr distanziert begegneten. Stärkere Spuren Stirners hingegen finden sich in den Texten von Existentialisten; aber auch hier gilt er gemeinhin nicht als offizieller Vorläufer.
Stirners Bruch mit der philosophischen Tradition des Abendlandes, seine Empörung für das Individuum und seine Ablehnung jeglicher Moral ließen ihn zu einem philosophiegeschichtlichen Außenseiter werden. Sein Werk stellt kein philosophisches System, sondern eine Anleitung zur Destruktion jeglichen Systems zugunsten des Individuums dar.
In Frankreich und vor allem in Italien hat sich in den vergangenen Jahren eine ernsthafte akademische Kultur der Auseinandersetzung mit Stirners Philosophie herausgebildet. Anläßlich seines 200. Geburtstages und seines 150. Todestages finden auch in Deutschland diverse Veranstaltungen statt. In der Stadtsparkasse Bayreuth läuft eine Ausstellung, in der über das Leben, Werk und die Rezeptionslinien informiert wird; ab Oktober wird diese Ausstellung in Berlin gezeigt werden.

http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/stirnerjahr2006/index.html