Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Die Vierte Republik

von Holger Politt, Warschau

Nun ist die Katze aus dem Sack. Jaroslaw Kaczynski, seit Herbst 2005 Polens starker Mann, hat das Amt des Regierungschefs übernommen. Abgelöst wurde mit Kazimierz Marcinkiewicz der bei den Bürgern des Landes bislang mit Abstand beliebteste Politiker. Als einen treuen Parteisoldaten lobte ihn derweilen sein Chef, denn ohne Wenn und Aber habe er die für ihn persönlich bittere, aus der Sicht der Parteiinteressen aber erforderlich gewordene Neuordnung der Regierung akzeptiert. Marcinkiewicz schickt sich nun an, in Warschau bei den Selbstverwaltungswahlen in wenigen Monaten in die Fußstapfen von Lech Kaczynski zu treten, der sich als Staatspräsident mittlerweile mit den großen und wichtigen (manchmal auch sehr irdischen) Dingen befassen darf. Da Zwillingsbruder Jaroslaw ihm künftig nun unmittelbar und ganz offen zur Seite steht, wird das Profil der Politik Warschaus von außen betrachtet ganz verläßlich einheitlichere Konturen erhalten.
Gleiches soll nach innen gerichtet geschehen, denn zur großen zentralen Aufgabe der Regierung ist nunmehr die Schaffung der Vierten Republik erkoren worden, also die Aufgabe, die nach Ansicht des Parteichefs der von ihm einst rekommandierte Ministerpräsident aus den Augen verloren hatte. Vierte Republik heißt ganz klar neue Verfassung mit dem Mehrheitswahlrecht als einem der Eckpunkte. Verfassungsmäßig stehen zwei Wege zur Wahl: Entweder mit Zweidrittelmehrheit über den parlamentarischen Weg oder aber durch Volkes Willensentscheidung, wenn eine einfache Mehrheit der Abgeordneten ein Referendum ausschreibt. Dann aber müßten mindestens fünfzig Prozent aller Wahlberechtigten an der Abstimmung teilnehmen, eine Hürde, die ohne eine entsprechende Stimmung im Lande nicht zu nehmen sein dürfte. Selbst die weithin als wichtig angesehene Abstimmung über den EU-Beitritt hatte über zwei Tage laufen müssen und nur mit Ach und Krach die verfassungsmäßige Bedingung der notwendigen Mindestteilnahme erfüllt.
Der Wechsel Jaroslaw Kaczynskis ins Amt des Ministerpräsidenten bedeutet unweigerlich das Ende aller Mutmaßungen über einen »organischen Weg« in die Vierte Republik. Wenn sie denn kommen sollte, dann wird sie auf anderem Weg ins Leben treten müssen. Kaczynskis deutliche Worte, Polen werde künftig eine EU-Politik betreiben, die in keiner Weise dem Grundsatz der nationalen Souveränität widerspreche, sind vor allem nach innen gerichtet und geben einen kleinen Vorgeschmack.
Auf ganz anderem Parkett – und Niveau – entdeckt der staunende Beobachter dieser Tage in einer Warschauer Straßenbahn die nicht zu übersehende Schmiererei: »Wer ist in der SLD? Die jüdische Hure Senyszyn, Homos und Diebe«. Viele Fahrgäste schauen weg, tun so, als gäbe es diesen offenkundigen Angriff auf das, was man gutbürgerlich Gemeinwohl nennen könnte, nicht. Joanna Senyszyn ist Sejm-Abgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende der SLD. Als die Ökonomie-Professorin Anfang Juni öffentlich in Begrüßung der Gleichheitsparade von Lesben- und Schwulenorganisationen in Warschau paraphrasierend die Bibel und den letzten Papst zu Hilfe nahm und damit eine Welle bigotter Entrüstung auslöste, ließ ihr junger Parteivorsitzender, Wojciech Olejniczak, der sich gern als gottesfürchtiger Mann bezeichnet, sie im Regen stehen und tat im Namen der gesamten Partei öffentlich Abbitte. Trybuna-Redakteur Krzysztof Pilawski zeigte Anstand und bat in einem kurzen Pamphlet um Verzeihung für Olejniczak. Dieser lebte seither in der Annahme, der Redakteur Pilawski wolle ihn – jetzt, wo es doch um die ganz großen Dinge gehe – fertigmachen. Pilawskis anschließende »Selbstkritik« im Stile der fünfziger Jahre zeigte, was die Uhr in der SLD geschlagen hat.
Am vorletzten Junitag wurde nun die Notbremse gezogen: Die Tageszeitung Trybuna wechselte den Chefredakteur, feuerte Pilawski wegen dessen Ansichten (sic!) und bestellte mit Leszek Miller einen Mann zum Kommissar, offiziell Chef des Programmrats genannt, der darüber zu wachen hat, daß kein Kritiker-Wässerchen mehr das Selbstbild trübt.