Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Deutschland, Deutschland über alles

von Manfred Uesseler

Der hessische GEW-Landesverband hatte zur Fußballweltmeisterschaft eine Broschüre aus dem Jahr 1989 neu aufgelegt. Der Titel: Argumente gegen das Deutschlandlied. Damals sollte für das vereinte Deutschland eine neue, zukunftweisende Hymne gefunden werden. Ulrich Thöne, der Bundesvorsitzende der GEW, hat gemeinsam mit dem hessischen Landesvorsitzenden, Jochen Nagel, das Vorwort zu dieser Neuauflage geschrieben. Mit dem Vorwort wollten sie einen Beitrag zu einer kritischen Diskussion über die Nationalhymne leisten.
Bereits im Vorfeld der Fußball-WM hatte die GEW in einer Presseerklärung am 7. Juni 2006 zum Engagement aller demokratischen Organisationen aufgerufen, um die Weltmeisterschaft zu einem weltoffenen und gastfreundlichen Ereignis zu machen. Rechtsradikale Störer sollten keine Plattform für ihre Parolen bekommen.
Das eine wie das andere sollte eigentlich zum normalen Diskurs gehören. Auseinandersetzungen, Abwehr, Rechtfertigungen etc. sollten nicht erforderlich sein. Aber in dem fähnchenschwingenden, sich immer deutlicher nationalistisch gebärdenden Deutschland wird das nicht als normal, sondern als unverschämte Herausforderung, Beleidigung, sogar als Frevel angesehen.
Wir sind Deutschland, so wurde es von fast allen Medien aufdringlich hinausposaunt und inzwischen bis in jeden Winkel der sogenannten Alltagskultur hinein kopiert, multipliziert, ja potenziert. Aus den Fenstern der Wohnungen, aus den Autos, in den Läden, Büros und Supermärkten hingen Fähnchen und Fahnen überall. Teile der menschlichen Körper und sogar ganze Körper wurden fahnentuchartig eingefärbt, Kleidung entsprechend drapiert.
Es ist jedoch nicht ein Faschings- oder Karnevalsmummenschanz. Das Ganze wurde in kommerzieller Absicht forciert, in weitgehender Übereinstimmung mit politischen Interessen. Wie kann es da eine kleine Gewerkschaft wagen, das Deutschlandliedin Frage zu stellen?
Der Präsident des DFB, Zwanziger, nannte es einen »ungeheuerlichen Vorgang«. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU) unterstellte der GEW, die Hymne »herabzuwürdigen«, die FDP bezeichnet die Gewerkschaften pauschal als »ewig Gestrige«, und der Generalsekretär der saarländischen CDU, Stephan Toscani, geißelte die »unheilige Allianz einiger Linker, die ihr Bestes geben, das miesepetrige Deutschlandbild noch weiter voranzutreiben« – nicht einmal Deutsch kann dieser Deutsche. Die Linken sind es wieder; fehlen nur noch die »vaterlandslosen Gesellen«, einst eine der Standarddiffamierungen.
Wie kann in dieser systematisch angefachten Euphorie es einer wagen, nicht nur nicht mitzumachen, sondern sogar noch Bedenken zu äußern? GEW-Chef Ulrich Thöne machte schnell einen Rückzieher und entschuldigte sich. »Wir (und er schloß dabei den hessischen Landesvorsitzenden, Jochen Nagel, ein) bedauern diesen Fehler und entschuldigen uns … für den entstandenen Schaden.«
Eine andere Sichtweise hat der Ex-Kultusminister von Sachsen-Anhalt (1994 bis 1998), Karl-Heinz Reck. Er fragt, ob es wirklich nichts mit Nationalismus zu tun habe, wenn bei uns Einigkeit und Recht und Freiheit gesungen wird. »Ich bin anderer Meinung und begrüße die Aktion der GEW.« Nach seiner Auffassung sei nicht wegzudiskutieren, daß das Deutschlandliedauch in der Zeit des Faschismus die Nationalhymne des Deutschen Reiches war und daß das Lied dadurch einen Makel hat, der besonders von Gegnern der Nazi-Diktatur auch heute noch empfunden wird. »Ich meine, es hätte dem vereinten Deutschland 1990 gut angestanden, den Bürgerinnen und Bürgern eine neue Nationalhymne zu ›schenken‹. (Gleiches gilt aus meiner Sicht für das Grundgesetz, aber das ist nicht das Thema. – M. U.) Ich weiß, dass es heute unrealistisch ist, auf eine neue Nationalhymne zu hoffen, obwohl Alternativen vorhanden sind. Ich denke da an ›Freude schöner Götterfunken‹ von Beethoven und Schiller oder an Bechers DDR-Hymne.«
Hätte das nicht – oder so ähnlich wenigstens – der Standpunkt des GEW-Vorstandes in der Auseinandersetzung sein können? Statt dessen ein Ausweichen auf den »falschen Zeitpunkt«. Wann aber ist ein Zeitpunkt falsch? Was bedeutet hier falsch? Zu früh, zu spät oder überhaupt falsch? Wenn überhaupt falsch – und vieles läuft bei denen, die sich einmischen, zumindest unterschwellig darauf hinaus: Sie wollen von der eigentlichen Problematik ablenken.
Weterhin ist zu fragen: Zu früh? Darf erst wieder diskutiert werden, wenn (wie heute schon sporadisch) nicht nur die dritte Strophe des alten Deutschlandliedes, also die Nationalhymne der Bundesrepublik, sondern auch die erste Strophe gesungen wird – nicht mehr nur als Provokation oder aus Unkenntnis des Textes der dritten Strophe und gar des geschichtlichen Hintergrunds? Dann wird es nicht mehr zu früh sein, sondern bereits zu spät.