Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Brief an Arthur

von Thomas Rüger

Lieber Arthur,
können die Menschen ohne Vorurteile leben? Kann ein Mensch ohne Vorurteil leben?
Zwei leicht unterschiedliche Fragestellungen, die uns gleich zum Kern der Sache führen.
Vorurteile sind pauschale, verallgemeinernde Denkmuster, die es unserem Köpfchen ersparen, vor lauter Fragen und Hinterfragen, vor lauter Relativieren und Differenzieren kein festes Land mehr zu erreichen, und hilflos in einem Meer voller Gedankenstrudel hin- und herzutreiben.
Vorurteile erleichtern zweifelsohne unser Leben, indem sie in die zahlreichen Synapsen unseres Denkzentrums feste Mauern einziehen. Der Gedankenfluß wird auf diese Weise kanalisiert, die Richtung ist vorgegeben, was die Orientierung natürlich ungeheuer erleichtert.
Über das Entstehen von Vorurteilen gibt es eine umfangreiche Sammlung an Literatur – aus sozialpsychologischer bis theologischer, aus ethischer bis verhaltensbiologischer Sichtweise.
Dabei wäre es, wie so oft im Leben, nützlich und gewinnbringend, wenn das Problem aus sprachlicher Sicht betrachtet würde.
Nein, ich will jetzt nicht das Wort »Vorurteil« einer seitenlangen Sprachanalyse unterziehen.
Es bedarf nur eines erneuten Blickes auf die beiden Eingangsfragen. Sorgt hier Mehrzahl wirklich für den Mehrwert? Mag es vordergründig lediglich als die Betrachtungsweise eines spitzfindigen Zeitgenossen erscheinen, so wird ein Perspektivenwechsel auf den alltagssprachlichen Gebrauch des Plurals sehr erhellend sein. Wie oft ist die Rede von »den Ausländern«, »den Frauen«, »den Politikern«, »den Blonden«, »den Schwarzen«, etc. pp.
»Die Juden sind unser Unglück«, lautete eine NS-Parole; auch wird im rechten politischen Spektrum ein ursprünglich kommunistischer Slogan verwendet: »Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten!«
Indem Menschen mit bestimmter politischer (Ab-)Neigung, mit einer bestimmten Haar- oder Hautfarbe, einem bestimmten Geschlechts- oder sonstigem Merkmal pauschalierend und undifferenziert zusammengefaßt werden (es gibt ja hierzu recht anschauliche Metaphern, etwa »alle über einen Kamm scheren« oder »alle in eine bestimmte Schublade stekken«), werden Vorurteile etabliert und zementiert.
Aber die Pluralform wirst Du, lieber Arthur, einwenden, existiert ja im Prinzip in allen weltweit benutzten Sprachen. Selbst die Esperantosprache klammert die Mehrzahl nicht aus.
Was also tun?
Lieber Arthur, wir müssen das Übel an der Wurzel packen! Ohne die Eliminierung des Plurals werden wir kein Vorurteil ausmerzen können. Es wird ein harter Kampf werden, sich radikal gegen eine liebgewonnene Denkgewohnheit und ein tradiertes Sprachmuster zu wenden.
Der unerbittliche Sprachfriseur wird verzweifelt um seine letzte Schublade kämpfen. Doch die revolutionäre Forderung lautet unbarmherzig: Schafft den Plural global ab!
Jegliche Mehrzahlform wird gnadenlos als Sprachmüll beerdigt, eine Wiederverwendung beziehungsweise -aufbereitung ist ausdrücklich nicht vorgesehen!
Als Grabinschrift empfehle ich:
»Hier sind alle Mehrzahlformen als sprachliche Erzeuger und Begünstiger von Vorurteilen beigesetzt. Ab sofort existiert kein Plural und kein Vorurteil mehr!«
Darf ich, lieber Arthur, mit Deiner Unterstützung für meinen Kampf rechnen?
Es grüßt Dich
Dein Konrad