Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

Stimmen aus dem Gefängnis

von Uri Avnery, Tel Aviv

Das Gefängnis erfüllt in den Annalen jeder Revolutionsbewegung eine wichtige Funktion. Natürlich sind die Bedingungen in den Gefängnissen schlimm; aber sie dienen als Schulungsstätten für Aktivisten, als Zentren zur Kristallisation von Ideen, als Sammelplätze für Führer, als Plattformen für den Dialog zwischen den verschiedenen Fraktionen.
Für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) spielt das Gefängnis all diese Rollen und noch etliche mehr. Während der 39 Jahre Besatzung sind Hunderttausende junger Palästinenser durch israelische Gefängnisse gegangen. Zu jeder Zeit wurden durchschnittlich 10000 Palästinenser in Gefängnissen gehalten. Dies ist der lebendigste und aktivste Teil des palästinensischen Volkes. Er schließt Menschen aus jeder Bevölkerungsklasse, jeder Stadt und jedem Dorf, jeder politischen und militärischen Fraktion ein.
Gefangene haben eine Menge Zeit. Sie haben die Möglichkeit zu lernen, nachzudenken, Seminare zu organisieren, sich vollberuflich auf die Probleme ihres Volkes zu konzentrieren, Ansichten auszutauschen, Lösungen auszuarbeiten.
Um eine Explosion zu verhindern, erlauben die Gefängnisbehörden diesen Gefangenen ein großes Maß an Zusammenleben und Selbstregierung. Dies ist eine weise Politik. Praktisch sehen die Gefängnisse wie Kriegsgefangenenlager aus. Zusammenstöße zwischen den Gefangenen und den Gefängnisbehörden sind verhältnismäßig selten.
Als Yasser Arafat und seine Leute aus Tunesien nach Palästina zurückkehrten, kam es ständig zu Kontroversen zwischen ihnen und »den Leuten von drinnen«. Arafat und seine Leute hatten niemals in einer Demokratie gelebt. Sprachen sie von einem künftigen palästinensischen Staat, so hatten sie das Regierungssystem Jordaniens, Ägyptens, Tune siens und des Libanon vor Augen und waren überrascht, wenn die jungen Leute, angeführt von den Ex-Gefangenen, auf das israelische Modell hinwiesen.
Es war kein Zufall, das fast alle meine palästinensischen Freunde Ex-Gefangene sind, die lange Zeit im Gefängnis verbrachten, manche zwölf oder sogar zwanzig Jahre. Ich fragte mich immer, wodurch es möglich wurde, daß sie nicht verbitterten. Die meisten von ihnen glaubten, daß Frieden mit Israel möglich und notwendig sei. Deshalb unterstützten viele aus ganzem Herzen die Friedenspolitik Arafats, auch wenn sie seine Regierungsform kritisierten.
Gegenwärtig sind viele Führer der verschiedenen palästinensischen Fraktionen im Gefängnis : von Marwan Bargouti, dem Führer der Fatah in der Westbank bis Scheich Abd-al-Khalak al-Natshe, einem ranghohen Hamas-Führer. Mit ihnen zusammen sind die Führer des Islamischen Jihad, der Volksfront und der Demokratischen Front im Gefängnis. Sie sind fortwährend im Dialog miteinander, während sie auch ständigen Kontakt zu den Führern ihrer Organisationen außerhalb und mit den Leuten im Gefängnis halten. Nur Gott weiß, auf welche Weise.
Wenn die Führer der Gefangenen mit einer Stimme sprechen, so hat dies ein größeres moralisches Gewicht als die Statements jeder anderen palästinensischen Institution, einschließlich des Präsidenten, des Parlaments und der Regierung. Darum ist das Dokument, auf das sich diese palästinensischen Führer vor einigen Wochen einigten, so wichtig. Im wesentlichen folgt es der Politik Yasser Arafats: die Zwei-Staaten-Lösung, ein palästinensischer Staat in allen 1967 besetzten Gebieten mit Ost- Jerusalem als Hauptstadt, die Entlassung aller palästinensischen Gefangenen. Das bedeutet praktisch natürlich die Anerkennung Israels.
Für die israelische Öffentlichkeit ist der problematischste Teil gewöhnlich das Flüchtlingsproblem. Kein palästinensischer Führer kann das Recht auf Rückkehr aufgeben – und auch dieses Dokument beinhaltet diese Forderung. Praktisch erkennen die Palästinenser die Tatsache an, daß dieses Problem nur in Übereinstimmung mit Israel gelöst werden kann. Das heißt, daß die Rückkehr nach Israel notwendigerweise nur einer sehr begrenzten Anzahl gestattet werden kann und daß der größere Teil der Lösung in einer Rückkehr in den palästinensischen Staat und in der Zahlung von Kompensationen liegt. Es gibt einen Unterschied zwischen der Anerkennung des Rechtes auf Rückkehr im Prinzip als einem Menschenrecht und der praktischen Wahrnehmung dieses Rechtes in der realen Welt.
Das »Gefängnisabkommen« könnte Hamas helfen, mit der neuen Realität fertig zu werden – und das war wahrscheinlich auch das Hauptmotiv seiner Autoren. Der sagenhafte Sieg von Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen war nicht nur für Israel und die Welt eine Überraschung, sondern auch für Hamas selbst. Die Bewegung war vollkommen unvorbereitet, um die Verantwortung der Regierung zu übernehmen. Die neue Situation schuf einen ernstzunehmenden Widerspruch zwischen der Ideologie der Hamas und den Erfordernissen einer Regierungspartei. Dieser Widerspruch findet seinen Ausdruck in den Erklärungen verschiedener Führer der Hamas. Das ist keine Doppelzüngigkeit, sondern eher ein Ausdruck verschiedener Reaktionen gegenüber einer neuen Realität. Es ist eine normale Verwirrung, und wahrscheinlich wird einige Zeit vergehen, bis ein Konsens erreicht und eine gemeinsame Position definiert werden können.
Das Abkommen ist darauf gerichtet, einen Konsens zu schaffen, der Hamas hilft, eine Politik zu machen, die sich auf einem Kompromiß zwischen der Ideologie und Theologie der Bewegung einerseits und den Erfordernissen des palästinensischen Volkes andererseits gründet.
Während des Schauprozesses gegen Marwan Barghouti standen meine Freunde und ich vor dem Gerichtsgebäude und hielten ein Poster hoch, auf dem stand: »Schickt Barghouti an den Verhandlungstisch und nicht ins Gefängnis!«

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt