Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

Reha-Bücher – Bücher-Reha

von Ove Lieh

Was vierzig Jahre Sozialismus in dreißig Jahren (ich bin Jahrgang ‘59) nicht geschafft haben, ist sechzehn Jahren Kapitalismus in sechzehn Jahren gelungen, mein Rückgrat ist »ausgestiegen«.
Das an sich unangenehme Ereignis verschaffte mir einen dreiwöchigen angenehmen Aufenthalt in einer Reha-Klinik und dieser wiederum eine nette Begegnung. Nein, nein, kein Kurschatten, obwohl die Sache ein wenig prickelnd war. Oben, unter dem sehr modernen Dach nämlich, stehen auf dem Weg zur klinikeigenen Kapelle ein paar Regale mit vorwiegend alten Büchern, die zumeist aus der ehemaligen Gemeindebibliothek des kleinen Ortes stammen. Was in solchen Bibliotheken alles stand! Was die Leute hätten lesen können, wenn sie nur gewollt hätten! Was sie hätten wissen können! Aber die für Rückgabetermine vorgesehenen Zettel in vielen Büchern waren völlig leer. Die Leute wollten also nicht.
Die Leute wollen ja nie, oder wollen wenigstens hinterher nicht gewollt haben. Und die hier oben unbeaufsichtigt herumstehenden Bücher wollte wohl auch niemand, so schien es mir. Dabei standen da interessante Sachen: Stefan Heym: Crusaders aus den fünfziger Jahren (2 x), Heinrich Mann: Der Untertan, Arnold Zweig: Junge Frau von 1914, Die Zeit ist reif, Hermann Kant: Die Aula, Der Aufenthalt, Der dritte Nagel, Das Impressum, Erik Neutsch: Der Friede im Osten (Band 1 und 3), drei Bände Tucholsky, und, und … und. Und plötzlich zwischen all’ den Ausgesonderten (zu Recht?) eine Helmut-Kohl-Biographie (Econ-Verlag 1985). Er steht aus unerfindlichen Gründen neben Günter Görlich: Eine Anzeige in der Zeitung. Nebenbei, ich finde keinen Thomas Mann, einen Strittmatter und keinen Heine. Ich kann aber auch etwas übersehen haben, denn es steht einiges durcheinander, und es sind einige hundert Bücher. Ich habe ein wenig Mitleid mit ihnen, weil sie hier stehen, denn weil hier niemand die »Ausleihe« beobachtet, geschweige denn kontrolliert, für welchen Zeitraum man ein Buch an sich nimmt, könnten sie doch längst neue Besitzer haben. Aber offenbar stehlen die Leute keine Bücher mehr, sie können ihnen gestohlen bleiben.
Beim Untertan verstehe ich das ja noch, den haben zumindest die ehemaligen DDR-Bürger, von denen einige viel weniger ehemalig zu sein scheinen, als sie selbst glauben, noch zu Hause, weil er Pflichtlektüre in der Schule war. Es war wahrlich nicht alles schlecht! Als ich nun ein paar Tage nach dem ersten Besuch noch ein paar Angaben zu den Büchern notieren will, stelle ich fest, daß einige verschwunden und etliche dazugekommen sind. Die stehen gar nicht nur herum, sondern der Bestand ist in Bewegung. Einige werden entnommen, und die Lücken werden gefüllt, übrigens mit etlichen Westbüchern. Die Heyms sind weg. Peter Edel ist plötzlich da mit: Wenn es ans Leben geht (Band 2), Tagore: Sandkörnchen im Auge, sehe ich und Henry A. Kissinger: Memoiren 1968-73, Herbert Wehner: Ein Leben mit der deutschen Frage, Jurek Becker: Irreführung der Behörden, interessanterweise bis 22.09.04 von Zimmer 108, das ist jetzt mein Zimmer, ausgeliehen.
Wie dem auch sei, mein erster Verdacht, die Bücher seien hier endgelagert, war falsch, sie sind wie ich zur Rehabilitation hier, und die läuft offensichtlich gut. Ich wüßte nur gern, welches Buch hier einst als letztes stehen wird und welches Los ihm beschieden sein wird. Aber ich werde es nie erfahren. So wie ich wohl nicht erfahren werde, warum in dem Buch, das ich »adoptiere« (Carl v. Ossietzky: Rechenschaft, Publizistik aus den Jahren 1913-1933. 2. Auflage Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1982; aus der Kreisbibliothek Joseph Meyer Hildburghausen am 9.10.98 ohne Angabe von Gründen ausgesondert) die Seiten 49, 52, 53, 56, 57, 60, 61 und 64 unbedruckt geblieben sind.
Habe ich ein Beispiel sehr plumper DDR-Zensur entdeckt? Paßten die Textteile nicht in das Ziel des Buches, »… die geistig-politische Entwicklung Ossietzkys von den Positionen des bürgerlichen Liberalismus und Pazifismus zur antifaschistischen Einheit zu dokumentieren«? War es Pfusch? Mangel an Druckerschwärze? Konnten DDR-Bürger auch zwischen den Zeilen lesen, wenn gar keine Zeilen sondern weiße Blätter da waren? Es gab ja nichts in der DDR und auch das war schwer zu bekommen. Aber es gab (mindestens) ein Buch, in dem nicht alle Seiten bedruckt waren, das aber immer noch besser dran war als andere Bücher, die wurden gar nicht gedruckt. Ein behindertes Buch konnte ich mitnehmen, ein verhindertes nicht.
Ich bin übrigens inzwischen gesundheitlich rehabilitiert und meiner eigentlichen Bestimmung, der Ausübung handwerklicher Erwerbsarbeit wieder zugeführt und hoffe, auch auf all die armen Bücher, die ich traf, trifft das bald zu.