von Klaus Hart, São Paulo
In der Zuckerhutstadt São Paulo preschten Panzerwagen durch die Straßen und Kampfhubschrauber starteten: Die größten der rund achthundert Slums wurden besetzt. Kurz zuvor hatte ein Banditenkommando eine Kaserne überfallen und dabei zehn Maschinengewehre und eine Pistole erbeutet. Bei ähnlichen Attacken wurden Dutzende deutsche Sturmgewehre der Marke Heckler & Koch sowie Granaten, Landminen und Munition geraubt.
Doch die eingesetzten Soldaten waren den meist jugendlichen Banditen in ihren Hochburgen mit einem unüberschaubaren Gassenlabyrinth nicht gewachsen. Die Jungbanditen feuerten stets aus sicherem Versteck auf die eher schwerfälligen Soldaten – Schußwechsel hörte man sogar in der City. Ein Banditenchef sagte im abgehörten Sprechfunkverkehr seiner Miliz: »Da kommen sie – wir sind bereit zum Gefecht!« Es war eine mulmige Situation für das Militär, das sich teilweise hinter gigantischen Allegorienwagen des Karnevals verschanzte. Immer wenn die Soldaten wieder einmal erfolglos ein Armenviertel verließen, wurden sie von Bewohnern beschimpft und von Jugendlichen mit obszönen Gesten verhöhnt. Doch nach zwölf Tagen – oh Wunder – waren die geraubten Waffen auf einmal wieder da, die Aktion wurde abgebrochen. Der Militärsprecher erklärte, ein Informant habe die Soldaten zu dem Waffenversteck nahe der Traumstrände Rios geführt: »Das war ein Sieg der militärischen Aufklärung. Wir wenden nur dann Gewalt an, um Gefechte zu verhindern oder die Zivilbevölkerung vor größerem Unheil zu bewahren.«
Doch wie Brasiliens große Zeitung Folha de São Paulo meldete, ist die Sache völlig anders gelaufen. In Wahrheit hätten die Streitkräfte insgeheim mit dem Verbrechersyndikat Comando Vermelho verhandelt und vorgeschlagen: Ihr rückt die Waffen wieder heraus – und wir stoppen die Militäraktion und lassen euch in Ruhe. Das war durchaus im Sinne der Banditen, denn durch die Slumbesetzung war der Drogenhandel gestört worden. Seit dieser Enthüllung ist die Militärführung in Erklärungsnot. General Helio Macedo dementierte, daß es Verhandlungen oder gar ein Abkommen mit den Verbrechern gegeben habe. Die Folha de São Paulo hielt dagegen, daß beispielsweise im Slumkonglomerat Complexo do Alemao (Komplex des Deutschen) Offiziere mit Sprechfunkgeräten den Banditenkommandos Verhandlungsangebote gemacht hatten: »Unsere Mission ist, die geraubten Waffen wiederzuerlangen – wenn wir die haben, ziehen wir uns zurück.«
Nach dem Truppenabzug feierten sich die Banditenmilizen als Sieger. Zehntausende Mitglieder rivalisierender Verbrechersyndikate setzen ihre grausame neofeudale Diktatur über die Slumbewohner fort und lassen sich mit ihren brasilianischen, deutschen, schweizerischen, russischen und nordamerikanischen Maschinengewehren für die Titelseiten der Zeitungen ablichten. Der renommierte Historiker Josè Murilo de Carvalho, Mitglied der Dichterakademie Brasiliens, geht davon aus, daß »die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums die Politisierung der Bewohner blockiert, sie ruhig hält und eine Rebellion oder andere Protestaktionen verhindert. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht, es ist gut für sie. Denn wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos wird es keine soziale Explosion geben.«
Die Folha de São Paulo konstatierte, daß während des zwölftägigen Militäreinsatzes kein einziger Milizenboß oder Drogenhändler getötet oder verhaftet wurde. In anderen großen Zeitungen wird darauf verwiesen, daß das in den Slums konzentrierte Waffenarsenal nahöstliche Organisationen wie Al-Quaida vor Neid erblassen lasse. Um die Sicherheit beim jüngsten Konzert der Rolling Stones an der Copacabana zu garantieren, habe man ein riesiges Polizeiaufgebot in Marsch gesetzt. Doch in den Slums werde zugelassen, daß Unschuldige getötet würden.
Vor dem Karneval wurden im Slum Vigario Geral acht junge Männer von Banditen entführt, danach gefoltert, in Stücke gehackt und Schweinen als Futter gegeben. Fotos, die zeigen, wie freilaufende Schweine in Slums Ermordete auffressen, sind von Rios Presse bereits veröffentlicht worden, Menschenrechtsaktivisten Rios haben derartiges im Interview beschrieben. Im Februar hatten kurz vorm Karneval Banditenkommandos »zur Abschreckung« in einer belebten Straße von Rios Stadtviertel Engenho de Dentro zwei zerstückelte Leichen offen auf einem Wagen ausgelegt, einen abgeschlagenen Kopf auf die Kühlerhaube gestellt. Die Szenerie löste bei den Passanten keineswegs Entsetzen und Erschütterung aus, sondern Spott, Spaß, Scherze, Witzeleien, Spielereien und großes Hallo. Viele zückten spontan die Handys und ließen sich in »komischen, lustigen« Posen zusammen mit dem Kopf, den anderen Leichenteilen fotografieren, übermittelten die Bilder sofort an Hinz und Kunz. Kolumnisten der Qualitätszeitungen, aber auch Anthropologen und Soziologen sehen darin ein Zeichen für die Banalisierung des Lebens, für die Verrohung und die Brutalisierung in Brasilien unter Staatschef Lula. »Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren«, betont der schwarze Schriftsteller Paulo Lins, von dem die Buchvorlage für den Film City of God stammt, der auch in Deutschland mit Erfolg lief.
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