Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

Deutschland verrückt. Aber in Gesellschaft.

von Paul Oswald

Um Mißverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen: Es ist mir schnurzpiepe, wer am 9. Juli auf dem Fußballweltmeistertreppchen steht. Was natürlich eine Lüge ist: Es ist mir nicht egal. Denn wenn ich mir die Nationalhuberei der vergangenen Wochen vergegenwärtige – teils im Rahmen der Weltmeisterschaft zelebriert, teils schon vorher und ohne sie als Kulisse –, dann müßte ich zumindest zugeben, aus welchem Land die Weltmeisterschaftsmannschaft tunlichst nicht kommen sollte.
Offenbar sind die intellektuellen Wegbereiter der momentan grassierenden Deutschlandfahnenseuche selbst erschreckt über das, was sie mit ihrem Patriotismusgequatsche der vergangenen Monate und Wochen angerichtet haben. Sie erklären die Schwarz-Rot-Goldene einfach zur Fankultur. Nein, mit Nationalismus, beteuern einige, habe das alles gar nichts zu tun. Na, das walte Matussek! Dieser Spiegel-Journalist verfaßte unlängst jenes derzeit vielbesprochene, umstrittene und umtalkte Buch Wir Deutschen, in dem er unter anderem auflistet, warum uns »die anderen« zu lieben hätten. Ich weiß nicht, wie anderswo mit so einem Thema umgegangen wird: Aber warum, bitte sehr, müssen wir geliebt werden? Wieso muß ich auf Mozart stolz sein? Die ganze Fragwürdigkeit des deutschpatriotischen Liebesspiels wird auch durch das Personal deutlich, dessentwegen wir – nach Matussekscher Lesart – Deutschland zu lieben haben: Da werden doch tatsächlich solche Helden der deutschen Eventkultur wie Franz Beckenbauer und Heidi Klum in eine Reihe mit Gutenberg und Bonhoeffer gestellt. Hat der das ernst gemeint? Was für eine diffizile Beleidigung.
In einer Besprechung im Neuen Deutschland erwähnte der Rezensent, Matusseks Spiegel-Kollege Alexander Osang habe einmal angemerkt, dieser Matussek schriebe wie ein Gott. Kann ja sein. Aber Gott war auch schon mal besser. Mathias Matussek schreibt gegen ein Trauma an, unter dem er während seiner Zeit als Korrespondent in London litt. Er war den – zugegeben inzwischen stupiden und abgelatschten – britischen Bösartigkeiten, den Stereotypen über Deutschland und dem Spott nicht gewachsen. Unter solchen Umständen, das wollen wir konzedieren, sind schon ganz andere Leute zu Patrioten mutiert. Bei genauerem Draufblick deucht allerdings, daß Mathias Matussek weder Erst- noch Alleintäter ist: Vielleicht hat das ja alles schon angefangen mit Grassens Krebsgang …? Matussek resümiert – immerhin verkneift er sich dabei ein Ausrufezeichen –: »Neue Stürme fegen durch die ganze Welt. Es gibt einiges zu tun. An die Arbeit.« Da kommen einem ganz andere Sprüche hoch (zumal, wenn man für das Ende der Nachkriegszeit nicht mehr jung genug ist): »Nun, Volk steh auf und Sturm brich los.« Ja, ja, Matussek, ich weiß, daß Sie das nicht so meinen, und daß Sie sich mit recht gegen einer derartige Unterstellung verwahren würden. Indes: Wegbereitungen hatten schon immer viele Facetten, ganz besonders die ungewollten.
Insbesondere die öffentlich-rechtlichen TV-Fußballberichterstatter dienen sich bereitwillig als Multiplikatoren des nationalen Gesaftels der jungdeutschen Intellektuellen à la Mathias Matussek an. Der 1. Preis geht dabei an jenen Reporter der ARD, der nach dem Anpfiff des Spieles Deutschland gegen Polen bekannte, beim Massengesang des Deutschlandliedes eine Gänsehaut bekommen zu haben. Na, bitte, es geht doch!
Oft werden Debatten zu diesem Thema mit dem Hinweis auf Patriotismusrituale in anderen Ländern geführt, »die Franzosen«, »die Engländer« und gar erst »die Polen«, und die Montenegriner, die haben sich jetzt anläßlich ihrer Neustaatlichkeit sogar eine eigene Sprache erfunden. Sehen wir es doch einmal so: Reichen die nicht schon alle für das kleine Europa? Müssen wir nun unbedingt auch noch wollen? Warum können wir nicht froh sein, daß es hierzulande in dieser Hinsicht anders zugeht? Bislang anders zuging? Ertragen wir es nicht, mit einem fröhlichen Apatriotismus zu existieren? Können wir nicht »alleine« sein? Müssen wir uns denn dazugesellen? Deutschland verrückt, aber bitte nicht alleine?
Gut Ding will Weile haben, noch haben wir polnischen Patriotismusstandard nicht erreicht. Dort entblödete sich beispielsweise eine Boulevardzeitung nicht, vor dem Spiel gegen Deutschland die Schlacht bei Grunwald zu bemühen. Darüber darf gelacht werden. Doch ob es reicht, sich an die Stirn zu fassen, weil der polnische Ministerpräsident Marcinkiewicz, (anspielend auf die Vertretung der deutschen Minderheit im Sejm) forderte, den Polen in Deutschland sollten ähnliche Rechte zugestanden werden, muß sich noch erweisen. Fängt der ganze Vorkriegsschlamassel wieder an, einschließlich Volkstumsdebatten und ähnlichen Patriotismen? Es war gut, daß die Polen verloren haben, und noch besser wird es sein, wenn es ihnen die Deutschen nachtun. Dann können die Fahnen eingerollt werden.