Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

Am Rand

von Eckhard Mieder

Bonames I: Pizerria am Bahnhof Bonames. Es regnet. Tristesse, Gräue, Schnupfen. In der Ecke sitzt ein junger Mann mit langem, schütteren Haupthaar. Vor ihm liegt eine Schachtel Marlborogh Light. Es ist eine der Schachteln, die in großer Schrift wehren und warnen: Wer raucht, tötet Kinder. Rauchen ist tödlich. Wer raucht, kriegt keine Kinder. Wer keine Kinder kriegt, ist ein demographischer Unhold. Der junge Mann sitzt, trinkt nichts, raucht nicht, schaut nur aus dem Fenster. Vielleicht will er sowieso keine Kinder. Deutsche Männer sollen sich im Zeugungsstreik befinden.
Am Tisch neben ihm sitzt ein Mann bei der Bildzeitung und einem Bier. Er trägt einen grünen Overall. Auf der rechten Brust trägt er seinen (vermutlich seinen) aufgenähten Namen: Peter Hassenpflug. Das ist einer der Namen, die eine Geschichte sind und nicht erfunden werden müssen. Auch er wartet, aber er liest dabei Antworten auf die Frage, ob die Politiker irre geworden seien.
Auch ich warte. Zusammen mit meiner Tochter auf eine Schulkameradin und deren Mutter. Wir waren vorher im Sandweg in Frankfurt. Die Videothek habe ich vorige Woche entdeckt. Sie hat eine riesige Auswahl, auch an grusligen Filmen. Als ich Filme von Maetzig entdeckte, etwa Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse, mußte ich unbedingt für zehn Euro Beitrag Kunde werden. So weit ist es mit mir gekommen.
In der Kinderabteilung fand Luise nichts. Popelkram. Sie kommt mit einer Kassette aus der härteren Abteilung: Hochzeit des Grauens. Ab 16 Jahre. Eine reiche Tochter setzt sich gegen den Willen ihres Vaters durch, baut sich ein Traumhaus aus Holz, will ihren Galan heiraten. Schon im Brautkleid wird sie Zeuge, wie ihr Fast-Gatte ihrer besten Freundin beischläft. Mit einer Schere sticht sie zu und flieht. Der Mann überlebt, freundet sich seltsamerweise mit dem Schwiegervater an, heiratet die Freundin. Die Fast-Gattin bleibt verschwunden. Der Mann beschließt, mit seiner Frau das Haus des Todes zu bewohnen.
Jetzt steht der Mann mit dem schütteren Haar auf, steckt seine Marlborogh-Schachtel ein und nimmt von einem Stuhl eine Plastiktüte, aus der es klirrt, hoch. Er ruft ein: »Auf Wiedersehen!« und erhält ein schallendes: »Ciao, Dottore!« vom Wirt zurück. Auch Peter Hassenpflug steht auf, läuft am Tresen vorbei zum Eingang der Küche und bezahlt sein Bier. Er verläßt die Pizzeria und verschwindet in Nebel, Regen, Tristesse. Für einen Moment denke ich an Joschka Fischer.
Meine Tochter entdeckt ihre Freundin. Sie steht auf dem Bahnsteig, eine Weile schon. Luise entschwindet in die Nacht des Grauens. Ich bin entlassen. Ein Vater ohne Amt und Befugnis, eine betrübliche Gestalt.
Auf der Nachhausefahrt frage ich mich nicht, ob die Politiker irre geworden sind. Es sind die Autofahrer auf der A 661. An Bonames vorbei führt sie durch das Flachland, aus dem Frankfurt gewachsen ist. Abrupt der Übergang vom Acker zur Stadt. Die Skyline – dieser Prahlhans, anrührend in seiner Zuversicht, alles könne ewig wachsen.
Die Häuser um den Ben-Gurion-Ring in Bonames hinter mir – eine einzige Betonburg. Zum wiederholten Male nehme ich mir vor, sie zu besuchen. Gilt nicht als beste Adresse, eine Menge Ausländer da. Vielleicht eine der besten Adressen: Bonames soll von bona mensa kommen.
Bonames II: Um meine Tochter abzuholen, fahre ich anderen Tags wieder nach Bonames. Um die Zeit nicht zu vertrödeln, hebe ich in der Frankfurter Sparkasse am Bahnhof Geld ab. Als ich das Geldinstitut verlasse, steht ein älterer Mann vor mir, stützt sich auf einen Krückstock und strahlt mich an. Er freue sich, daß ich gute Laune habe. Es stimme doch, daß ich gute Laune habe? »Ich komme aus Ostpreußen«, fährt der Mann mit altersbrüchiger oder vom Trunke heiserer Stimme fort, »ich sehe, ob ein Mensch gute Laune hat oder nicht. Und Sie lächeln.« Ostpreußen, Mensch, denke ich, von daher komme ich auch, ungefähr. Berlin liegt von Bonames aus zwischen Storchennest, Tundra und Kaviar.
»Woher kommen Sie denn?« »Aus Morungen. Das ist ein ganz kleines Dorf. Aber ich bin da vertrieben worden, als ich zwei Jahre alt war.« Fehlt nur, daß er seufzt. Haben ja in Büchern und Filmen eine Hausse, die zwölf bis fünfzehn Millionen vertriebenen Deutsche. Intelligente Bettelmasche, meine Anerkennung. Ich beschließe, gute Laune zu haben. Und ich meine, etwas kaschubisch Gefärbtes in seiner Stimme zu hören. So etwas wie bei Onkel Hubert, der in der Nähe von Gdan´sk lebt, und der mir mal sagte: »Nu, warum soll ich woanders leben?« Onkel Hubert gehört zu den Autochthonen. Sind nicht Deutsche, sind nicht Polen, sind alle Blechtrommler und Brausepulverauflecker. Und schon immer da.
Ich begreife, daß der Mann nach Geld fragt. Den autobiographischen Umweg nimmt er geschickt und erreicht sein Ziel. Ich will nicht, daß er um die Münze bettelt. Ich komme ihm zuvor und gebe ihm den einen Euro. Da strahlt er erst recht und sagt: »Das ist für mich soviel wie eine Million. Sie wissen gar nicht, daß das für mich soviel wie eine Million ist! Ich habe noch dreißig Cent, da kann ich jetzt beim Bäcker einen Kaffee trinken.« Kaffee, jaja.
Sie kommen. Zwei Schulfreundinnen begleiten meine Tochter. Als Luise und ich zum Auto gehen, läuft uns der Ostpreuße über den Weg. »Der Kaffee hat geschmeckt«, sagt er zu mir. Ein glücklicher Mann.
Und meine Tochter schaut mich wieder mal an, als sei ich plemplem oder eine Figur aus Spritziges Blut und splitternde Knochen. Wen hat mein Daddy, mein Alter, da schon wieder aufgerissen? Richtig peinlich und eklig ist das. Nach einer Weile im Auto sagt sie: »Übrigens der Horrorfilm war Scheiße! Achtziger Jahre-Trash! Die sticht dem mit der Schere in den Arm, aber das sieht man nicht mal richtig! Nicht mal richtig Blut!« »Da ging die Party ja voll in die Hose«, sage ich. »Nö, da lief ‘n Klasse-Horrorfilm auf Pro Sieben«, kriege ich’s um die Ohren, »Christinas Haus. Voll gruselig!«