Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Hund oder Schwanz?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Gewöhnlich erzähle ich diese Geschichten nicht; denn es könnte der Verdacht aufkommen, ich sei paranoid. Zum Beispiel wurde ich vor 27 Jahren zu einer Vortragsreise in dreißig amerikanische Universitäten eingeladen, einschließlich der berühmtesten wie Harvard, Yale, Princeton, MIT, Berkeley … Meine Gastgeberin war die Gesellschaft für Versöhnung, eine geachtete nicht-jüdische Organisation; die Vorträge selbst wurden aber unter der Schirmherrschaft der Bet-Hillel-Rabbiner gehalten. Bei der Ankunft am New Yorker Flughafen wurde ich von einem der Organisatoren empfangen. »Da gibt es einen Haken«, sagte er mir, »29 Rabbiner haben Sie ausgeladen, haben Ihren Vortrag abgesagt.« Am Ende fanden alle Vorträge statt, doch unter der Schirmherrschaft christlicher Geistlicher. Als wir zu dem einen der Rabbiner kamen, der meinen Vortrag nicht abgesagt hatte, erzählte er mir das Geheimnis: Die Vorträge waren durch einen vertraulichen Brief der Anti-Defamation Liga, der »Gedanken-Polizei« des jüdischen Establishments, verboten worden. Der wichtigste Satz blieb mir im Gedächtnis: »zwar kann gesagt werden, daß Knessetabgeordneter Avnery ein Verräter ist, jedoch …«
Und eine andere Geschichte aus dem realen Leben: Ein Jahr später flog ich nach Washington D.C., um die Zwei-Staaten-Lösung zu »verkaufen«, die zu jener Zeit als ausgefallene, wenn nicht gar als verrückte Idee betrachtet wurde. Im Laufe meines Besuches waren die Quäker so freundlich, eine Pressekonferenz für mich zu arrangieren. Als ich ankam, war ich sehr erstaunt. Der Raum war proppenvoll; praktisch alle bedeutenden amerikanischen Medien waren vertreten. Viele kamen direkt von einer Pressekonferenz mit Golda Meir, die auch gerade in der Stadt weilte. Die Veranstaltung sollte wie üblich eine Stunde dauern; aber die Journalisten ließen mich nicht gehen. Sie bombardierten mich weitere zwei Stunden lang mit Fragen. Offensichtlich waren die Dinge, die ich zu sagen hatte, ganz neu und interessant für sie. Nun war ich neugierig, wie das in den Medien berichtet werden würde. Und in der Tat war die Reaktion erstaunlich: Nicht ein Wort erschien in irgendeiner Zeitung, auch nicht im Radio oder im Fernsehen. Nicht ein einziges Wort.
Nebenbei: Vor drei Jahren hielt ich eine Pressekonferenz – diesmal auf dem Kapitol in Washington. Es kam zur Wiederholung: Viele Reporter, ihr offensichtliches Interesse, die Fortsetzung der Konferenz über die angegebene Zeit hinaus – und kein einziges Wort in den Medien.
Ich könnte noch einige solcher Geschichten erzählen; aber das genügt. Ich erzähle sie nur im Zusammenhang mit dem Skandal, der kürzlich von zwei amerikanischen Professoren, Stephen Walt von Harvard und John Mearsheimer der Universität Chicago, verursacht wurde. Sie veröffentlichten ein Untersuchungspapier über den Einfluß der Pro-Israel-Lobby in den USA. In achtzig Seiten – vierzig davon Quellenangaben – beweisen sie, daß die Pro-Israel-Lobby eine ungehemmte Macht in der US-Hauptstadt ausübt, daß sie Mitglieder des Senates und des Abgeordnetenhauses terrorisiert, wie man im Weißen Haus nach ihrer Flöte tanzt, daß die bedeutenden Medien ihren Befehlen gehorchen und daß selbst die Universitäten in Angst vor ihr leben.
Dieser Aufsatz verursachte einen Sturm. Zum einen gab es die voraussehbaren wilden Angriffe der »Freunde Israels« – die meisten von ihnen Politiker, Journalisten und Professoren. Sie schleuderten die üblichen Anklagen gegen die beiden Professoren: Sie seien Antisemiten, sie ließen die Protokolle der Weisen von Zion wieder aufleben et cetera. Es war paradox, bestätigten sie doch nur die Argumente der Autoren.
Zum anderen war da eine Debatte, die mich wirklich faszinierte. Sie brach zwischen hochrangigen Intellektuellen aus, vom legendären Noam Chomsky, dem Guru der Linken in aller Welt (einschließlich Israel), bis zu progressiven Internetseiten überall. Der Zankapfel war die Schlußfolgerung der Untersuchung: Die jüdisch-israelische Lobby beherrsche die US-Außenpolitik und unterwerfe sie israelischen Interessen – und zwar im krassen Widerspruch zu den nationalen Interessen der USA. Ein einschlägiger Fall: der amerikanische Angriff auf den Irak.
Chomsky und andere erhoben gegen diese Behauptung Einspruch. Sie leugneten nicht die Erkenntnisse der beiden Professoren, sondern protestierten gegen ihre Schlußfolgerungen. Ihrer Ansicht nach lenken nicht die Pro-Israel-Lobby die amerikanische Politik, sondern die Interessen der großen Aktiengesellschaften, die das amerikanische Empire beherrschen und Israel für ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele ausbeuten.
Wedelt der Hund nun mit dem Schwanz, oder wedelt der Schwanz nun mit dem Hund? Ich bin etwas unsicher, ob ich mich in die Debatte solch berühmter Intellektueller einmischen soll; aber ich fühle mich irgendwie trotzdem verpflichtet, meine Ansicht dazu zu äußern und will mit dem Juden beginnen, der zum Rabbi ging und sich über seinen Nachbarn beschwerte. »Du hast recht«, erklärte der Rabbi. Dann kam der Nachbar und beschwerte sich seinerseits. »Du hast recht,« verkündete der Rabbi. »Aber wie ist das möglich?« rief seine Frau aus. »Es kann doch nur einer recht haben!« »Und du hast auch recht!« sagte der Rabbi.
Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation. Ich denke, daß beide recht haben (und hoffe damit, auch selbst recht zu haben).
Die Erkenntnisse der beiden Professoren sind bis ins letzte Detail richtig. Jeder Senator und Kongreßmann weiß, daß Kritik an der israelischen Regierung für ihn politischen Selbstmord bedeutet. Zwei von ihnen, ein Senator und ein Kongreßmann, versuchten dies – und wurden politisch hingerichtet. Die jüdische Lobby wurde komplett gegen sie mobilisiert und jagte sie aus ihrem Amt. Dies geschah vor aller Augen, um ein öffentliches Exempel zu statuieren. Wenn die israelische Regierung morgen ein Gesetz haben möchte, das die Zehn Gebote für ungültig erklärt, dann würden mindesten 95 Senatoren der USA den Gesetzesentwurf unverzüglich unterschreiben.
Präsident Bush zum Beispiel hat sich von allen seit vielen Jahren vertretenen amerikanischen Positionen, die unseren Konflikt betreffen, zurückgezogen. Er akzeptiert automatisch die Positionen unserer Regierung – egal wie sie aussehen. Fast alle amerikanischen Medien wollen nichts von palästinensischen und israelischen Friedensaktivisten wissen. Und was die Professorenschaft betrifft, weiß ihre übergroße Mehrheit, welche Seite ihres Brotes mit Butter bestrichen ist. Wenn trotz allem einer von ihnen den Mund zu öffnen wagt und etwas gegen die israelische Politik sagt – was alle paar Jahre einmal vorkommt –, wird er unter einem Hagel von Verwünschungen begraben: ein Antisemit, ein Holocaustleugner, ein Neonazi.

Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs; redaktionell gekürzt