Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

Anders leben

von Kurt Merkel

Im Süden San Franciscos dehnt sich auf einem der Hügel eine große grüne Fläche aus, der McLaren-Park. Noch vor zehn Jahren standen am Fuß zwei Hochhäuser mit Sozialwohnungen, die sich zu einem Schwarzenghetto entwickelt hatten. Der Park hatte einen üblen Ruf, alle Tage, hieß es, gab es Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen.
Unterdessen sind die Häuser abgerissen worden. Bürger der Gegend fanden, der Park müsse für sie und durch sie wieder genutzt werden können. Also veranstalteten sie im Amphitheater des Parks Konzerte, schleppten Snacks und Drinks heran und anschließend die Überreste in die Müllkübel und zum Recycling. Bei der Wahl der Mitglieder der Distriktbehörde unterstützten sie einen Kandidaten, der versprochen hatte, auf den Spielplätzen im Park Toilettenhäuschen bauen zu lassen.
Eine der Engagierten ist Managerin in einer weltweit tätigen Hotelkette, dauernd unterwegs. Doch ist sie einmal zu Hause, sucht sie den Kontakt zu den Nachbarn. Holt einer tagelang seinen Müllkübel nicht von der Straße, fragt sie nach, ob Hilfe gebraucht würde. Ein Alter, der sich mühsam von der Bushaltestelle heimschleppte und auf den Stufen vor ihrem Haus eine Pause einlegte, gehört nun zu denen, die sie von Zeit zu Zeit zu sich einlädt. Und da er, allein in seinem Haus lebend, immer mehr verfällt, bringt sie ihm ab und an etwas zu essen. Mittlerweile versteht sie ihre Hilfe als die »gute Tat«, die sie zu leisten hat. Und sie hat noch mehr Bedürftige zu versorgen: Vom Kaffeetisch sprang sie eines Tages auf, um den Kaffeesatz zum nächsten Straßenbaum zu bringen. Gewiß gibt es überall auf der Welt solche Leute. Was ich bemerkenswert finde, ist aber, daß sie nie auf den Gedanken kommen, Polizei, Sozialbehörde, Müllabfuhr oder wem auch immer ihre Beobachtungen, Sorgen oder Vorschläge vorzulegen. Sie wissen, da ist niemand, der für sie die Welt in Ordnung hält. Was sie wollen, müssen sie selbst tun.
Nun glaube ich nicht, damit »das Wesen der Amerikaner« gefunden zu haben. Das gibt es sicher genausowenig wie die eine Formel, auf die alle Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt gebracht werden könnten und nach der Einstein so lange wie vergeblich suchte. Aber das Erlebte beschreibt eine von Amerikanern zutiefst verinnerlichte Verhaltensweise. Für einen Europäer überraschend, unterhalten sich beispielweise zwei junge Männer hinter den Kassen im Supermarkt Trader Joe’s mit ihren Kunden völlig gleichberechtigt, weil sie ebenso wie ihre Kunden wissen, daß ihre Position mit der der anderen nicht nur jederzeit austauschbar ist – den Wechsel haben die meisten im Auf und Ab der wirtschaftlichen Entwicklung selbst schon und auch wiederholt erlebt.
Nun spricht das alles nicht dafür, sich mit der auch bei uns in Europa fortschreitenden Aushöhlung staatlicher und wirtschaftlicher Verantwortlichkeit für das Soziale und mit der Aufhebung jeglicher Sicherheit in bezug auf berufliches Leben abzufinden. Die Verteidigungsstrategien aber sind hier und da doch recht verschieden.
Allerdings trifft man auf die Auffassung, für sich selbst sorgen zu müssen und das auch zu wollen, in Amerika auch in ganz anderen Zusammenhängen. Der Mann, der aus dem Fenster seines Hauses den Jungen abknallte, der seinen Ball aus dem Garten des Schützen holen wollte, zeigt schon die Gefahren dieser Art »Selbsthilfe«. Besonders, wenn das solcherart Verteidigte keinem irgendwie gemeinsamem Interesse entspricht, sondern einem egoistischen. Und wenn die Verteidigungshaltung einer falschen Einschätzung der Gefährdung entspringt.
Sie vermuten zu Recht: Nun sind wir bei George W. Bush. Wir sollten ihm nicht unrecht tun, denn in vielerlei Hinsicht setzt er nur fort, was andere vor ihm begannen, und das war nicht nur sein Vater. Vielleicht kennen Sie den Witz, ich hörte ihn dieses Frühjahr in San Francisco: »Clinton did it between the Bushes«. Nun ja, die Entscheidung, sich mit dem Sturz des Schahs und der folgenden Revolution Khomeinis nicht abzufinden, war schon früher gefallen. Die Bedeutung dieses Ereignisses für die Region und für den »freien Fluß des Öls« war nicht zu übersehen. Die erste Ermunterung Saddams durch die USA, einen Konkurrenten, den iranischen, loszuwerden, schlug bekanntlich fehl. Selbst als Saddam diese Lizenz zum Losschlagen auf die Besetzung Kuwaits zu übertragen suchte und die USA nun zunächst den Machthunger »ihres Saddams« zügeln mußten, hielten sie sich mehrere Optionen offen. Während der Zeit ihrer Politik der »gleichen Distanz« zum Irak und zum Iran nach ihrem ersten Golfkrieg verfolgten sie auch die Variante, zusammen mit einem geschwächten und eingebundenen Irak und nicht mehr unabhängig handlungsfähigen Golfanrainern den Schlag gegen den Iran vorzubereiten. Schließlich fanden sie diese Option zu reich an Risiken und beschlossen, zuerst müsse Saddam diszipliniert werden.
Alle diese Entscheidungen einschließlich der zum ersten wie zum zweiten Krieg der USA gegen den Irak folgten ein und derselben Logik: sich die Freiheit zum Handeln im eigenen Interesse zu erhalten. Verhandlungen im Sicherheitsrat, Erpressung der Organisation zur Überwachung des Vertrages zur Nichtweitergabe nuklearer Rüstungsgüter, Unterstellung des Vorhandenseins von Massenvernichtungswaffen und der Notwendigkeit, im Interesse der Menschenrechte die Demokratisierung des Irak betreiben zu müssen, das alles sollte nur die Grundüberzeugung amerikanischer Politik so lange überdecken, wie sie im Interesse dieser Politik nicht offen dargelegt werden sollte: Wir tun, was wir für nötig halten. Alles andere, auch die Interessen aller anderen – hier benutze ich neuere Theatersprache – geht uns am Arsch vorbei.
An dieser Politik der USA, unilateral zu handeln, und wenn das nicht gelingt, internationale Organisationen oder andere Partner zur Unterstützung eigener Positionen zu gewinnen, hat sich nichts geändert. Auch das Ziel, die iranische Unbotmäßigkeit zu beenden, ist seit dem Sturz des Schahs unverändert. Die Vorgabe, es ginge um Verstöße des Iran gegen internationale Vereinbarungen, wird, da nirgends glaubhaft, nur noch lässig vorgebracht. Als Nahziel wird einfach und offen verkündet, die Mullahs dürfen die nukleare Anreicherung nicht betreiben. Bestehende Abkommen und die tatsächliche Situation – Atomstaaten, die nicht dem Nichtweitergabevertrag beigetreten sind, und Staaten, die wie der Iran an der Beherrschung der Anreicherung arbeiten – interessieren nicht.
Angesichts dieser Lage und der schier unübersehbaren Folgen eines möglichen weiteren amerikanischen Nahostabenteuers kann der Haltung der deutschen Regierung nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet werden. Daß sich einst die Oppositionsführerin Angela Merkel nach Gerhard Schröders relativer Distanzierung vom Golfkrieg so unappetitlich an George W. ranschmiß, mag man als der Oppositionsrolle geschuldet noch hinnehmen. Nun aber ist sie Kanzlerin. Und wenn der amerikanische Präsident so kurz nacheinander sowohl sie als auch die Staats-Interviewerin Christiansen – die nun wohl vergessen machen will, daß sie sich einst halb totlachen wollte, als Stoiber sie mit dem Pummelchen verwechselte und als Frau Merkel ansprach – und auch die Bildzeitung empfing, sollte das zu denken geben.
Bush bleibt bei seiner, der uramerikanischen Position: Wer uns nicht paßt, kriegt eins aufs Haupt, und der nächste Kandidat dafür ist der Iran. Und je mehr die Kanzlerin die Gemeinsamkeiten mit der amerikanischen Politik betont – und das ist nicht allein der Satz, alle Verhandlungsmöglichkeiten sollten ausgeschöpft werden, sondern auch der, der Iran bedrohe die Sicherheit der Welt und dürfe daher die nukleare Anreicherung nicht betreiben –, desto näher scheint Bush der Verwirklichung seines Wunsches zu kommen, Deutschland in den Kreis der »Willigen« einzubeziehen. Schon ist der deutsche Außenminister der Vertreter des einzigen Landes, das nicht Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ist, aber an den Vorbereitungen der nächsten Schritte gegen den Iran teilnehmen darf. So fördert man wohl auch den deutschen Wunschtraum nach ständiger Mitgliedschaft in diesem hehren Gremium und nennt zugleich den Preis. Inzwischen fordert der Verteidigungsminister, assistiert vom Innenminister, eine Neuformulierung des Verteidigungsauftrages.
Wie sollte eine Bundesregierung, wenn sie es denn wollte, aus dieser Einbindung in die imperialen Pläne jemals wieder herauskommen?