Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. April 2006, Heft 8

Wolfgang L.

von Werner Abel

Am 16. April 2001 beging Wolfgang L. seinen 80. Geburtstag. Schon zuvor hatte er seinen Freunden angekündigt, sich danach zur Ruhe setzen zu wollen. Keine öffentlichen Auftritte mehr, keine anstrengenden Reisen, ein paar kleine Artikel vielleicht, mehr nicht. Er sei eben nicht mehr der Jüngste. Die Freunde konnten sich vieles vorstellen, nur das nicht. Doch er wehrte hartnäckig alle Versuche ab, ihn umzustimmen. Einer aber fand das entscheidende Argument in einem Milieu, das Wolfgang L. sehr vertraut war: »Du, in deinem Alter! Damit könntest du gerade mal Kandidat des Politbüros der KPdSU werden!«

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Sollte jemals wieder der Sozialismus auf der Tagesordnung stehen, wurde Wolfgang L. nach einem Vortrag gefragt, wie könne man sich diesen vorstellen? Das wisse er auch nicht, und auch Marx und Engels hätten darüber nur recht allgemeine Aussagen getroffen. Aber einen Wunsch hätte er schon: Sollte sich jemals wieder ein Politbüro an die Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts stellen, dann dürfe dort nur Mitglied werden, wer zuvor das Gitarrespielen erlernt habe und seinen Beitrag singend darbringen könne. Dadurch würden die Reden vielleicht nicht so ermüdend lang, die Sprache nicht so hölzern, die Gedanken freundlicher und der Sozialismus vielleicht sogar fröhlicher werden.

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Der wichtigste Satz für ihn, so sagt Wolfgang L. oft in Gesprächen mit Freunden, sei jener berühmte im Kommunistischen Manifest, demzufolge an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation trete, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sei. Man könne wohl mit Recht davon ausgehen, daß gerade diese Forderung in den sich sozialistisch nennenden Ländern nicht erfüllt worden war. Dieses Fazit und ähnliche kritische Bemerkungen verärgerten viele Anhänger der alten Ordnung, und eine Zeitschrift, die nach einem kleinen einheimischen Raubtier mit rotem Fell benannt ist, promovierte ihn gar zum »größten Renegaten der deutschen Arbeiterbewegung«. Das erstaunte Wolfgang L. sehr, denn aus dieser Würdigung mußte er den Schluß ziehen, nunmehr bedeutender als Karl Kautsky zu sein. Leider könne er nicht mehr erfahren, ob das der Genosse Lenin auch so sehe. Aber, so fragte er, könne es nicht sein, daß nicht er der Renegat sei, sondern diejenigen, die bewußt die Verwirklichung jenes programmatischen Satzes negiert hätten? Wäre es nicht denkbar, daß gerade die der Häresie Angeklagten die Hüter der reinen Lehre waren?

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Der stellvertretende Minister der Geheimpolizei des verschwundenen kleineren deutschen Staates mußte sich nach der Auflösung seines Ministeriums sehr viel Kritisches anhören. Um so mehr freute er sich in seinem gleichnamigen Buch, daß Freunde nie sterben. Auch Wolfgang L., den er aus Kindheit und Jugend in der Sowjetunion kannte, sprach mehrfach mit ihm über die komplizierte Vergangenheit. Das geschah unaufgeregt, sachlich, fast freundschaftlich. Nun mußte aber Wolfgang L. in diesem Buch lesen, daß er sich nie für seinen »antikommunistischen Bestseller«, demzufolge die Revolution ihre Kinder entlasse, entschuldigt habe. Er könne sich nicht für etwas entschuldigen, woran er keine Schuld trage. Überhaupt wäre es für die Arbeiterbewegung vorteilhafter gewesen, sich an einigen Tugenden der alten Griechen zu orientieren, als deren tragisches Prinzip zu konservieren, nicht den Verursacher einer Katastrophe, sondern den Überbringer der Nachricht über sie zu richten.

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In einer Diskussion über den Wert von Fremdsprachenkenntnissen erinnerte Wolfgang L. daran, daß Friedrich Engels einst Wilhelm Liebknecht ernsthaft kritisierte, als er merkte, daß dieser des Spanischen nicht mächtig war. Engels, der mehrere Sprachen perfekt beherrschte, übernahm es auf der Stelle selbst, Liebknecht Spanisch zu lehren. Nachdem er diese Episode erzählt hatte, fragte Wolfgang L. die Anwesenden, ob sie einverstanden wären mit der Feststellung, daß Fremdsprachenkenntnisse keine Bedingung für eine Mitgliedschaft im Politbüro der SED gewesen seien. Vielleicht, fragte er schmunzelnd weiter, waren dort sogar nicht einmal exakte Kenntnisse der deutschen Sprache notwendig?