Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. April 2006, Heft 8

WM und Brasilienklischees

von Klaus Hart, São Paulo

Bestsellerautor Joao Ubaldo Ribeiro aus Rio de Janeiro konstatiert bei Deutschlandreisen immer wieder, daß deutsche Medien, aber auch die Normalbürger nicht von den absurdesten Brasilienklischees lassen wollen. Da Ribeiro nebenbei auch Zeitungskolumnist ist, informiert er seine Landsleute regelmäßig mit Spott über das verquere Brasilienbild, nicht nur in Europa: »In der Ersten Welt weiß man nichts über Brasilien. Wenn man die Mehrheit der Deutschen bittet, etwas über Brasilien zu sagen, dann kommt: Pelè, Fußball, Karneval, Nackte. Die Hauptstadt? Äh, Rio de Janeiro. Die wissen nichts!« Ribeiro liegt so schief nicht.
Vor der Fußballweltmeisterschaft werden Brasilien und sein Fußball wieder einmal gnadenlos mit Samba zusammengerührt. Samba-Fußball, Samba-Kicker, Samba-Giganten. Und Lothar Matthäus, der gerade im südbrasilianischen, nicht gerade Samba-geprägten Curitiba als Trainer anfing, wird gar zum Samba-Lothar. Man weiß es doch, wird einem eingebleut – in Brasilien ist feuriger Samba am beliebtesten – und im Karneval tanzt zu mitreißenden Sambarhythmen nicht nur ganz Rio Tag und Nacht. Alles falsch, alles frei erfunden, clevere Mediensteuerung macht’s möglich. Ein Blick in die brasilianischen Hitparaden, auf die Listen der meistgespielten Titel, der meistverkauften CDs genügt. Sowohl die Musikexperten als auch die Leute auf der Straße bestätigen: Samba war in Brasilien noch nie tonangebend, ist bis heute in vielen Landesteilen überhaupt nicht populär. Benedita Souza aus dem Samba-armen Nordosten lebt heute in der brasilianischen Kultur-und Wirtschaftsmetropole São Paulo, auch nicht gerade ein Samba-Pflaster: »Nein, daß alle Brasilianer Samba mögen, gar Samba im Blut haben, stimmt überhaupt nicht. Nur eine Minderheit kann Samba tanzen. Denn Samba muß man erst einmal lernen. Nur ein bißchen mit den Hüften wackeln, das kann jeder. Brasiliens populärste Musik ist nicht Samba, sondern Sertaneja, tiefromantisch.«
Wer sind die Megastars Brasiliens? Folgt man den Klischee-Vorgaben deutscher Medien, müßte es sich um Gilberto Gil, Marisa Monte, Lenine, Chico Cesar, Maria Bethania oder Caetano Veloso handeln – letzterer wird allen Ernstes gelegentlich als »größter Musikstar Brasiliens« gepriesen. Ein schlechter Witz. Die beiden Megastars Brasiliens heißen Zezè di Camargo und Luciano, leben und komponieren in São Paulo, sie spielen Sertaneja.
Die 2005 in Brasiliens Radios am meisten gespielte Musik, Fui Eu, kam von diesem Duo, ermittelt von Crowley Broadcast Analysis. Samba folgt stets deutlich abgeschlagen. Nicht zufällig holte sich der rechtssozialdemokratische Staatschef Lula für seine Wahlkampfkundgebungen als Anheizer keine Sambaband, sondern die Grammy-Preisträger Zezè di Camargo und Luciano. Auch andere Sertaneja-Stars, etwa Bruno und Marrone, sind weit populärer als die in Deutschland immer herausgestellten Musiker. Und schauen wir uns die landesweiten CD-Verkäufe der letzten Jahre an, wird’s noch kurioser: Pop und Rock, ganz überwiegend brasilianisch, liegen an erster Stelle, gefolgt von Sertaneja und – religiöser Musik von Kirchen und Sekten. Erst danach folgen Samba/Pagode. Die zuständigen Statistiker der Musikbranche verweisen indessen darauf, daß auf eine legal im Laden verkaufte CD bis zu zehn schwarz gepreßte und vertriebene Scheiben kommen. Schwerlich zu übersehen, welche Sparte die Raubpresser bevorzugen – Sertaneja. Überall in den Einkaufsstraßen Brasiliens werden nicht nur die CDs von Zezè di Camargo und Luciano teils zum Stückpreis von umgerechnet siebzig, achtzig Cents geradezu massenhaft angeboten. Brasiliens erste nicht von Indios gespielte Musik war Sertaneja, nicht Samba.
Ein weiteres Klischee: die Fußballbegeisterung. Wird wirklich überall an den Stränden, in jeder Straße, in jeder Gasse gekickt? Gemäß Umfragen tritt die große Mehrheit der Brasilianer nie oder nur höchst selten gegen einen Ball. Achtzig Prozent leben in Städten wie dem Betonmeer São Paulo. Benedita Souza aus São Paulo beobachtet: »Fußball geht eigentlich nur in den Clubs. Es ist doch alles zugebaut. Den Jugendlichen fehlt Platz zum Spielen. Deshalb sitzen die meistens vor dem Fernseher.« Stimmt. Auch weil’s vielen auf der Straße zu gefährlich ist. Brasiliens Heranwachsende hocken mehr als doppelt solange wie ihre deutschen Altersgenossen vor der Glotze – durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag, sie liegen damit weltweit an der Spitze.