Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Parallelwelten

von Martin Nicklaus

Endlich eine Schnapsidee zum Draufsetzten. Unsere Parlamentarier träumen vom Schloß und säen eine Wiese. Ihnen vernebelt die Verheißung originalgetreuer Fassaden so sehr das Hirn, daß sie zu fragen vergaßen: Original siebzehntes oder achtzehntes Jahrhundert oder wilhelminisch?
Was bei historischer Originalität herauskommt, sieht man am Zeughaus. Frisch renoviert erstrahlt es in feinstem Bonbonrosa, an dem bestenfalls Menschen, die mit Barbiepuppen sozialisiert wurden, Gefallen finden können; ein Schlag ins Stadtgesicht. Das Zeughaus war optisch eingebunden in die umgebende Bebauung, stellte mit Opernhaus, Kronprinzenpalais, Neuer Wache, Altem Museum und Dom ein Ensemble dar. Signalisierte bis zur Renovierung nur die barocke Modellierung der Fassade dem kundigen Auge die herausragende Bedeutung des heute als Deutsches Historisches Museum genutzten Baus, tritt das Gebäude nun in Platzhirschgebaren aus jedem baulichen Zusammenhang heraus und präsentiert sich als der Mittelpunkt der innerstädtischen Welt.
Es paßt in diese Zeit. Man kann es als Symbol einer zunehmenden Asozialisierung und Vereinzelung, einer Entsolidarisierung und Herauslösung aus gesellschaftlichen Zusammenhängen lesen. Horst-Eberhart Richters »Ende der Egomanie« bleibt derzeit nur laue Hoffnung.
Diese Entsolidarisierung geht mit einem wachsenden Bedürfnis nach Sicherheit und Überwachung einher. Am Zeughaus trägt man dieser Tendenz ziemlich unhistorisch Rechnung: durch Überwachungskameras. Eine davon zeigt via Internet den Abbruch vom Palast der Republik. Diese Demontage spiegelt eindrucksvoll jene parallel dazu stattfindende der alten Bundesrepublik. Daher wohl auch das Interesse auf seiten des Museums.
Grundgesetzlich war die Republik einst sozial und demokratisch gedacht; inzwischen unterlaufen Expertenkommissionen und Lobbyisten demokratische Prozesse. Hinzukommt die allgegenwärtige Korruption. Sie reicht von Bundeskanzlern bis hin zu Heerscharen firmengesponserter Kommunalpolitiker. Einem Energieimperium gelang sogar der Coup, einen Angestellten als Minister ins Schröderkabinett zu schleusen, der dort durch seinen Staatssekretär brav das Kartellrecht außer Kraft setzte. Die Pharmaindustrie kaufte einen unliebsamen Gesetzentwurf einfach auf, und für die Versicherungsbranche wirbt Münteferings Ministerium mit Steuergeldern.
Die Meinungsbildung der Bürger in den Hauptmedien wird eingeschränkt durch eine Selbstzensur, von der die einstigen Palastbaumeister nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Anschaulich macht das seit 1997 die Initiative Nachrichtenaufklärung mit einer jährlichen Top-Ten-Liste der aus dem öffentlichen Diskurs ausgeblendeten Themen. Ebenfalls schonungslos demontiert werden sozialen Errungenschaften. Inzwischen spendet Kenia Lebensmittel für Hartz-IV-Geschädigte.
Die Zahlungen an Langzeitarbeitlose und ältere Arbeitslose erreichen Rekordhöhe; die Armen werden mehr, die Sozialversicherungspflichtigen immer weniger. Und es ist kein Ende absehbar: Hungerlöhne bei Vollzeitarbeit, Verscherbelung von Sozialwohnungen, Rentenkürzungen, Jugendliche ohne Ausbildungschancen, Bildung als Zweiklassensystem.
Politisch gesichert werden nur Gewinne. Die Einkommen der ohnehin Vermögenden stiegen 2005, während Löhne und Gehälter fielen.
Deregulierung, Personalabbau und Privatisierung – unter dieser Dreifaltigkeit entmachtet sich der Staat selbst. Schon titelt Die Zeit über Angela Merkel: Die Frau, die den Staat abschafft. Eigentlich gehörte sie dafür unter die Beobachtung des Verfassungsschutzes.
Eine der »Begründungen« für Schloßneubau und Palastabriß lautete: »Ein Urteil darüber kann nur emotional gefällt werden … Argumente pro und contra Schloß wirken deswegen nur konstruiert.« Wem Argumente so dramatisch fehlen wie den wieseerzeugenden Schloßherren, dem bleibt nur, sich ins Metaphysische zu flüchten.
Während die Schloßbefürworter letztlich dem deutschen Militarismus ein Denkmal setzen (auch die, die das vielleicht nicht wollen), möchte ihn Schäuble wiederbeleben und drängelt, die Bundeswehr auch im Innern einsetzen zu dürfen. Diese Forderung ergibt sich logisch aus dem konsequent zu Ende gedachten Sozialabbau.
Aber auch ohne Bundeswehr ließen sich Menschen mit viel freier Zeit ruhigstellen: mit einem bunten Allwetter-Jahrmarkt voll simulierten Lebens auf dem in Berlins historischer Mitte künftig sprießenden Grase. Das würde sich zwar mit dem Nutzungskonzept der Schlosserer nicht ganz decken, käme ihm aber nahe: »rauschende Feste feiern; tanzen und musizieren; Familie, Freunde, Kunden einladen und etwas Außergewöhnliches bieten; Bier und Wein genießen«. Eine Schnapsidee halt.