Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Wohin ich auch schaue – Illusionen!

von Heerke Hummel

Die deutsche Bundeskanzlerin hat die Gerechtigkeit wiederentdeckt, im neuen Grundsatzprogramm ihrer Partei wird gar von einer »neuen Gerechtigkeit« gesprochen. Das macht sich gut, denn niemand hat je definiert, wo Gerechtigkeit beginnt und wo sie endet. Und so kommt es, daß alle Parteien, alle Lager, Verbände und Bewegungen sich einig sind; wenigstens dieses eine Mal.
Aber während die einen meinen, soziale Gerechtigkeit sei schon gegeben, haben die anderen sie als noch zu verwirklichende Forderung auf ihre Fahnen geschrieben. Wenigstens glaubt man an sie wie an eine Religion, bei der die einen überzeugt sind, der Messias sei schon gekommen, während die anderen noch auf ihn warten. So daß sich nun Katholiken wie Angehörige anderer Konfessionen und Religionen, aber auch Atheisten von Papst Benedikt XVI. vertreten fühlen können, der in seiner auf die sozialen Probleme der Gegenwart abzielenden Enzyklika Deus caritas est (Gott ist Liebe) darauf hinwies, »daß sich die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft in neuer Weise« stelle. Gerechtigkeit ist ein zentraler Begriff seiner Enzyklika. Wie schnell doch die Protestantin Merkel darauf reagiert hat! Mit dem Papst in Übereinstimmung befinden sich sowohl Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank und wohl bestverdienender Angestellter Deutschlands, als auch die politische Klasse von ganz rechts bis ganz links. Benedikt XVI. spricht vom Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird. Dies sei eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muß.
Konkreter wird der Papst nicht. Wie denn auch? Die Linke und die Rechte allerdings ebenfalls nicht. Auch sie leiten die Gerechtigkeit nicht aus dem Rechten, Richtigen, aus dem der Notwendigkeit Entsprechenden ab. Wo das nicht geschieht, beschränkt sich die Antwort auf die Frage nach Gerechtigkeit auf dem jeweiligen Glauben daran, was gerecht sei. Dieser Glaube – so will mir scheinen – baut auf einer allgemeinen Illusion auf. Es ist die falsche Vorstellung vom Reichtum dieser Gesellschaft, dessen Wesen man wie vor Jahrhunderten noch immer als eine Wertmenge betrachtet, die in einer Geldmenge ausgedrückt werden könnte. Diese Illusion steht im Gegensatz zur heutigen Realität. Denn mit der Verdrängung des Goldes aus dem Geldwesen durch das Papier veränderte sich das Wesen des Geldes grundlegend, indem sich das Geld aus einer Ware in ein staatlich sanktioniertes Arbeitszertifikat verwandelte. Möglicherweise hatte Benedikt XVI. diesen Prozeß des gesellschaftlichen Wandels im Auge, wenn er in seiner Enzyklika feststellte, zu Beginn des 21. Jahrhunderts fände eine historische Entwicklung ihren Abschluß, deren Ursprung am Ende des 19. Jahrhunderts lag.
Was dies mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat? Eigentlich gar nichts. Denn wo mit dem vom Staat herausgegebenen Geld lediglich bescheinigt wird, daß jemand Arbeit für die Gesellschaft geleistet hat, kann die gesellschaftliche Produktion nur störungsfrei funktionieren, wenn jeder mit seinem Einkommen auch die entsprechende Menge Arbeit in Form von Produkten konsumiert und so neuer Produktion und Arbeitsverausgabung Raum schafft. Wer sein Geld nicht wieder ausgibt, sondern spart oder in Finanzpapieren anlegt, handelt der ökonomischen Notwendigkeit zuwider, bringt den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß ins Stocken und verursacht Arbeitslosigkeit.
Das soziale Problem dieser Gesellschaft besteht nicht darin, daß nicht alle das Gleiche erhalten, sondern darin, daß die einen mehr bekommen als sie benötigen – »das Ihre«, wie es der Papst nennt, also nicht verbrauchen können –, die anderen aber nicht in die Lage versetzt werden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Die Frage nach der Gerechtigkeit betrifft in Wirklichkeit die ökonomische Notwendigkeit einer Einkommensverteilung, die genügend und richtige Arbeitsanreize schafft, es aber dabei ermöglicht, das gesellschaftliche Produkt zu konsumieren, ohne daß die einen gegen Zins verborgen und die anderen sich bei ihnen verschulden müssen.