von Uri Avnery, Tel Aviv
Einer unserer früheren Generalstabschefs, der verstorbene Rafael (»Raful«) Eitan, der nicht gerade eine Leuchte war, fragte einmal einen ausländischen Gast: »Sind Sie Jude oder Christ?« »Ich bin Atheist!« antwortete dieser. »Ok, ok«, reagierte Raful ungeduldig, »ein jüdischer oder ein christlicher Atheist?« Nun, ich bin ein hundertprozentiger Atheist. Und ich mache mir Sorgen, daß der israelisch-palästinensische Kampf einen immer religiöseren Charakter annimmt.
Der historische Konflikt begann als Zusammenstoß zwischen nationalen Bewegungen, die religiöse Motive nur als Dekoration verwendeten. Die zionistische Bewegung war am Anfang nicht religiös, sondern eher anti-religiös. Fast alle Gründungsväter waren erklärte Atheisten. In seinem Buch Der Judenstaat, der Gründungscharta des Zionismus, sagte Theodor Herzl: »Wir werden sie (unsere Geistlichen) in ihren Tempeln festzuhalten wissen.« Chaim Weitzman war ein agnostischer Wissenschaftler. Vladimir Jabotinsky bat darum, seinen Leichnam zu verbrennen – im Judentum eine Sünde. David Ben Gurion weigerte sich sogar, bei Beerdigungen seinen Kopf mit einer Kipa zu bedecken. Vor dem Holocaust lernten wir in den zionistischen Schulen Palästinas, mit erbarmungsloser Verachtung all das zu behandeln, was aus dem »jüdischen Exil« kam: die jüdische Religion, das jüdische Stetl, die jüdischen Sozialstrukturen (»die umgekehrte Pyramide«). Erst der Holocaust änderte die Haltung gegenüber der jüdischen Vergangenheit in der Diaspora, die im Hebräischen gewöhnlich als Galuth – Exil – bezeichnet wurde.
Ben Gurion machte den religiösen Gruppen, einschließlich den anti-zionistisch eingestellten Orthodoxen, einige Konzessionen. Er befreite ein paar hundert Yeshiva-Studenten vom Militärdienst und errichtete ein getrenntes »staats-religiöses« Schulsystem. Sein Ziel war, bequeme Koalitionspartner zu gewinnen. Diese Vorgehensweise gründete sich jedoch auf der Annahme (die uns damals allen gemeinsam war), daß die jüdische Religion unter der brennenden Sonne Israels bald verdunsten und nach ein oder zwei Generationen verschwunden sein werde.
All das änderte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg im Jahre 1967. Die jüdische Religion erlebte ein Comeback.
Auf der palästinensischen Seite geschah etwas ähnliches, aber mit einem völlig anderen Hintergrund. Die europäische Nationalidee hatte auch die arabische Nationalbewegung beeinflußt. Deren geistige Väter – viele von ihnen waren arabische Christen – riefen zur Befreiung der arabischen Nation von den Fesseln der osmanischen Herrschaft und später vom Joch des europäischen Kolonialismus auf. Die palästinensische Nationalbewegung, die sich nach der Balfour-Deklaration, mit der der britische Außenminister Balfour 1917 den britischen Zionisten in Palästina eine Heimstatt versprochen hatte, und dem britischen Palästinamandat gebildet hatte, besaß anfangs ebenfalls keinerlei religiösen Charakter.
Um diese Bewegung zu bekämpfen, bestimmten die Briten eine religiöse Persönlichkeit zur Führung der palästinensischen Gemeinschaft in Palästina: Haj Amin Al-Husseini, den Großmufti von Jerusalem. Doch anders als von den Briten erwartet, stellte der sich an die Spitze des palästinensischen Kampfes gegen die zionistische Einwanderung und war bemüht, der palästinensisch-arabischen Rebellion einen religiösen Charakter zu geben. Indem er den Zionisten unterstellte, gegen die islamischen Heiligtümern auf dem Tempelberg feindliche Absichten zu hegen, versuchte er, die Muslime in aller Welt für eine Unterstützung der Palästinenser zu gewinnen. Der Mufti scheiterte vollkommen, doch dieser Fehlschlag, den die palästinensische Gemeinschaft bis heute aus ihrer Geschichte ausgelöscht hat, sollte für die spätere Katastrophe nicht ohne Bedeutung bleiben. In den fünfziger Jahren verehrten die Palästinenser Gamal Abd-al Nasser, den Bannerträger eines säkularen panarabischen Nationalismus. Später, als Yasser Arafat die moderne palästinensische Nationalbewegung gründete, unterschied dieser ebenfalls nicht zwischen Muslimen und Christen. Bis zu seinem Ende bestand er auf der Befreiung der »Moscheen und Kirchen« in Jerusalem.
Die PLO rief zur Schaffung eines »demokratischen, säkularen Staates auf, in dem Muslime, Juden und Christen zusammenleben werden«. Arafat liebte das Wort »säkular« nicht, und zog statt dessen die Formulierung »nicht-konfessionell« vor. Mit dem Ausbruch der ersten Intifada Ende 1987 änderte sich die Situation jedoch grundlegend: Die islamischen Bewegungen Hamas und Islamischer Jihad begannen, den nationalen Kampf zu übernehmen.
Der erstaunliche Sieg der israelischen Armee im Sechs-Tage-Krieg hatte in Israel eine tiefe politische und kulturelle Veränderung ausgelöst. Als an der Klagemauer das Shofarhorn ertönte, rückte die religiöse Jugend, die bis dahin nur am Rande vegetiert hatte, in die Mitte der historischen Bühne. Plötzlich erkannte man, daß das religiöse Bildungssystem, das von Ben Gurion lediglich zur politischen Bestechung eingeführt worden war, im Stillen ein fanatisch religiöses Produkt geschaffen hatte. Die religiöse Jugendbewegung, die all die Jahre zuvor unter Demütigungen und Minderwertigkeitsgefühlen gelitten hatte, verschrieb sich der Siedlungsbewegung und der Annexion der besetzten Gebiete.
Doch Israel ist kein religiöser Staat geworden. Es lebt hier noch immer eine große säkulare Mehrheit. Laut Angaben des maßgeblichen Statistischen Büros der Regierung definieren sich nur acht Prozent von Israels Juden als »orthodox« (Haredim), neun Prozent als »religiös« (religiöse Zionisten), 45 als »säkular, nicht religiös« und 27 Prozent als »säkular-traditionell«. Aber wegen ihrer Rolle im Siedlungsunternehmen haben die Religiösen einen großen Einfluß auf den politischen Prozeß. Sie haben praktisch jede Bewegung in Richtung Frieden mit den Palästinensern verhindert. Und: Sie haben auch die religiöse Reaktion auf der andern Seite provoziert.
Seit Jahren verfolgt mich der Alptraum, der israelisch-palästinensische Konflikt könnte sich aus einer nationalen zu einer religiösen Konfrontation entwickeln. Ein nationaler Konflikt – so schrecklich er auch ist – ist lösbar. Während der letzten beiden Jahrhunderte wurden viele nationale Kriege geführt, und fast alle endeten mit territorialen Kompromissen. Solche Konflikte sind von Grund her logisch und können auf rationalem Wege beendet werden.
Bei religiösen Konflikten ist das anders. Wenn sich beide Seiten an göttliche Gebote gebunden fühlen, wird es um vieles schwieriger, einen Kompromiß zu erlangen. Religiöse Juden glauben, daß Gott ihnen das gesamte heilige Land verheißen habe. Darum sei es eine nicht zu vergebende Sünde, einem Fremden, das heißt Nichtjuden, etwas davon abzugeben. In den Augen muslimischer Gläubigen ist das gesamte Land Waqf – steht also unter religiöser Obhut. Und deshalb ist es ebenfalls absolut verboten, einen Teil davon an Ungläubige zu geben. Als der Kalif Omar vor zirka 1400 Jahren Palästina eroberte, erklärte er es zum Waqf. Der Grund war ganz praktisch: Er wollte verhindern, daß seine Generäle dieses Land unter sich aufteilten.
An dem Tag, an dem Arafat starb, waren mir viele Israelis böse, weil ich in einem Interview mit Haaretz sagte, daß wir uns noch einmal nach diesem säkularen Führer zurücksehnen werden, der bereit und fähig gewesen war, mit uns Frieden zu schließen. Ich sagte, daß sein Tod das letzte Hindernis für einen Aufschwung des islamischen Fundamentalismus in Palästina und in der ganzen arabischen Welt wegräumen werde. Man mußte kein Prophet gewesen sein, um dies vorauszusehen.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt
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