Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Berlinale I

von Anna Scheer

Um die kaum zu überbietenden Festivalkonkurrenten Venedig und Cannes wissend, gab Berlinale-Direktor Dieter Kosslick in diesem Jahr schon vorab bekannt, daß es vor allem um Inhalte gehe. Das große Starkino – wie die mehrfach Oscar-nominierten Filme Capote und Syriana oder der teuerste chinesische Film aller Zeiten Wuji – wurde zwar im Rahmen des Wettbewerbs gezeigt, allerdings außer Konkurrenz, da diese Filme ihre Weltpremieren schon hinter sich hatten.
In den Wettstreit um den Berlinale-Bären begab sich allerdings auch der achtzigjährige Altmeister Robert Altman mit seinem Film A Prairie Home Companion. Darin erzählt er von der letzten Aufzeichnung der bekanntesten gleichnamigen Radiosendung aus den USA, die nach dreißig Jahren eingestellt wird. Was unglaublich komisch wirkt, sind die echten Erinnerungen des Moderators Garrison Keillor, der nicht nur das Drehbuch schrieb, sondern auch sich selbst spielt. Mit einem Aufgebot amerikanischer Schauspielelite aus Meryl Streep als gealterte Countrysängerin, Woody Harrelson und John C. Reilly als singenden Cowboys sowie Kevin Kline und Tommy Lee Jones schuf er ein niveauvolles Musical. In der für ihn typischen Weise führt Altman geschickt sämtliche Handlungsstränge vor und hinter der Bühne mit nur allen vorstellbaren Intrigen zusammen, so daß dieser Film bis zuletzt als Favorit für den Goldenen Bären galt.
Auch der »Grand Seigneur« des französischen Kinos, der 75jährige Claude Chabrol, erfüllte die Erwartungen mit L ’Ivresse Du Pouvoir. Mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle erzählt er über Machttrunkenheit – in der deutschen Übersetzung heißt es prosaisch Geheime Staatsaffären – und dem nicht zu entzerrenden Gestrüpp der Korruption. Der Film beginnt mit der bekannten Formulierung »Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig …«, was Chabrol allerdings bei jeder sich bietenden Gelegenheit kommentiert mit »Gerade, wenn der Satz auftaucht, hat es immer mit der Wahrheit zu tun«. Chabrol erfreut mit gekonnter Ironie und spitzfindigen Ideen. Angesichts seiner anerkannten Meisterschaft ist dieser Film natürlich keine Überraschung.
Überraschend dagegen die Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Charlotte Rampling, die völlig anders entschied, als sämtliche Kritiker spekuliert hatten. Jetzt, wo die Berlinale vorüber ist, kann nur noch darüber sinniert werden, was die Jury wohl bewogen haben könnte, den Goldenen Bären an den zuvor kaum beachteten Film Grbavica zu verleihen. Dem einzigen osteuropäischen Film im Wettbewerb waren die Journalisten vorab mit professioneller Ignoranz begegnet. So war es die am wenigsten besuchte Pressekonferenz der Berlinale, als die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic die Situation für Filmemacher in Bosnien-Herzegowina beschrieb. Noch immer ist die im Krieg zerstörte Filmindustrie von Sarajevo nicht funktionsfähig, so daß sich die Regisseurin nur durch die Koproduktion mit Österreich einem Tabuthema widmen konnte. Ihr Film erzählt von den Spuren des Krieges, die sich niemals verwischen lassen: Eine Zwölfjährige zwingt ihre Mutter Esma, ihr endlich die Wahrheit über ihren Vater zu sagen, bis diese das Geheimnis rausbrüllt: Der Vater sei ein Tschetnik, der Esma im Kriegslager vergewaltigt habe. Die 31jährige Jasmila Zˇbanic´ inszeniert dieses erschütternde Trauma mit einfühlsamer und ruhiger Konsequenz. Auch die Schauspieler – Mirjana Karanovic´ als Mutter und Luna Mijovic´ als Tochter – sind ein Glücksfall für dieses Spielfilmdebüt. Da aber anzunehmen ist, daß der Jury Unstimmigkeiten und Regiefehler, die sich angesichts der Produktionsbedingungen kaum vermeiden ließen, nicht entgangen sein werden, ist ihre Wahl als bewußtes Zeichen für den ambitionierten Film zu werten.
Auch mit der Entscheidung, der dänischen Produktion Eine Soap einen halben Silbernen Bären zu überreichen, zeigt sich die Absicht, die Preisvergabe auch als Förderung noch nicht etablierter Filmemacher zu verstehen.
Den größten Beifall erhielten Michael Winterbottom und Mat Whitecross für die »Beste Regie« von The Road To Guantanamo, einem Dokudrama. Die Geschichte von den in England lebenden pakistanischen Jugendlichen, die mit haltlosen Vorwürfen zwei Jahre in Guantanamo festgehalten wurden, findet bis heute kein Ende. Nicht nur, daß die Darsteller der Jugendlichen sowie die Jugendlichen selbst auf der Heimreise von der Berlinale nach London stundenlang auf dem Flughafen verhört und beschimpft wurden; auch die Tatsache, daß bis heute noch fünfhundert Gefangene dort festgehalten werden, macht deutlich, wie dringend die Forderung nach Schließung des Gefängnisses ist. Angesichts dieser Tatsachen erübrigt sich der von einzelnen Tageszeitungen erhobene Vorwurf an die Regisseure, daß dieser Film propagandistisch sei. Jede noch so überhöhte Propaganda übersteigt die Realität. Die Guantanamo-Kulisse für die Dreharbeiten war übrigens in die Teheraner Landschaft gebaut worden …
Weniger mit politischen als vielmehr mit privaten Problemen befaßten sich die vier deutschen Wettbewerbsbeiträge, die ein sehr facettenreiches Bild auf die deutsche Filmästhetik werfen. Mit sehr markanten Mitteln – Valeska Grisebach entschied sich beispielsweise für ihre Dreiecksgeschichte Sehnsucht für Laien aus Brandenburg – und ungewöhnlicher Erzählweise spalteten sie das Publikum. Hier gibt es kein Dazwischen, sondern nur ein Entweder Oder.
Deshalb ist auch das Vorgehen der Jury nachvollziehbar, keinen der Filme, sondern ihre bemerkenswerten Darsteller zu ehren. Neben der preisgekrönten Sandra Hüller als psychisch Kranke in Requiem von Hans-Christian Schmid ist vor allem Sabine Timoteo in Der Freie Wille von Matthias Glasner hervorzuheben. Für den knapp dreistündigen Film über einen Vergewaltiger erhielt Jürgen Vogel einen Preis für seine künstlerische Leistung als Schauspieler, Co-Autor und Co-Produzent. Moritz Bleibtreu spielt in der Romanverfilmung Elementarteilchen von Oskar Roehler einen sexuell irritierten Lehrer und ist umgeben von einem Ensemble aus Starschauspielern wie Franka Potente, Martina Gedeck, Corinna Harfouch und Nina Hoss. Sie alle entschädigen für zuweilen nicht nachvollziehbare Handlungsstränge, die ungelenk aus dem Roman entnommen sind. Insofern ist der Silberne Bär für Moritz Bleibtreu eher als Belohnung für alle Beteiligten an diesem Ensemblefilm zu betrachten.
Die Internationale Jury entschied bemerkenswert gerecht und sozial: Die, die noch nichts hatten, haben etwas bekommen.
Nun muß sich zeigen, ob die Filme – anders als der Wettbewerbssieger des Vorjahres U-Karmen eKhayelista, der im normalen Kinoprogramm floppte – auch wirklich laufen lernen.