Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Uppsala und Auschwitz

von Jochen Reinert

Uppsalas Studenten waren schon immer ein besonderes Völkchen. 1968 versuchten sie es ihren Pariser Kommilitonen nachzutun. Ihr Aufstand kulminierte indes nicht in Barrikadenkämpfen, sondern in einer hitzigen Debatte mit Olof Palme. Mitte der 1970er Jahre luden linke Studenten Gunnar Myrdal und Jürgen Kuczynski zu einem Rededuell ein, bei dem die ergrauten Gelehrten nicht aus ihren alten Gräben herauskamen. An Uppsalas Alma Mater gab es zu allen Zeiten fortschrittliche Studenten, die allerdings nie eine größere Niederlage erlitten als am 17. Februar 1939.
Im Bollhus, der Tennishalle der Universität, debattierten damals 1500 Studenten über eine von nationalistischen Kommilitonen initiierte Resolution gegen die Einwanderung jüdischer Akademiker; eine eher geringe Anzahl von ihnen war nach der Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland und dem Novemberpogrom nach Schweden geflüchtet und suchte Arbeit. Eingefädelt war der Coup von der konservativen Studentenvereinigung Heimdal – sie weigert sich bis heute, ihre Archive zu öffnen – als Reaktion auf eine Initiative demokratischer Studentenvereinigungen, die unter dem Eindruck des 9. November 1938 von Premier Per Albin Hansson eine freizügigere Flüchtlingspolitik verlangt hatten.
Die im Bollhus schließlich mit 548 zu 349 Stimmen angenommene Resolution wurde zur Initialzündung einer antisemitischen Welle, die nicht nur die schwedischen Universitäten erfaßte. Auch Ärzteorganisationen und Handwerksverbände machten, wie Jan Petersen in seinem Buch Exilland Schweden ausführlich beschreibt, gegen »Judenimporte« mobil.
An die Bollhus-Versammlung erinnerten am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, gleich mehrere Veranstaltungen. An historischer Stätte erlebten heutige Uppsalaer Studenten eine szenische Rekonstruktion der denkwürdigen Debatte, und in einem Seminar im Schloß ging es um Konsequenzen aus diesem »größten Triumph des schwedischen Rechtsextremismus aller Zeiten«, wie Haåkan Holmberg, Chefredakteur der Upsala Nya Tidning, dieser Tage feststellte. Regie führte in beiden Fällen das Stockholmer Forum für Lebendige Geschichte, eine einzigartige nationale Bildungs- und Forschungsinstitution, die 2003 aus einer Serie internationaler Konferenzen über Judenvernichtung, Fremdenhaß und Toleranz hervorging. Bereits 1998 hatte Regierungschef Göran Persson das Aufklärungsbuch Darüber sollt ihr berichten … über den Holocaust in Millionenauflage in Schweden verbreiten lassen.
»Nazismus und Antisemitismus«, machte Forumchefin Heléne Lööw in Uppsala deutlich, »waren keineswegs Vorstellungen, die nur von ›Unwissenden und Ungebildeten‹ getragen wurden, sondern sie waren auch stark in den Universitäten verankert.« Zugleich beleuchtete sie »die Konsequenzen, zu denen die verschiedenen Studententreffen führten, das heißt, daß Flüchtlinge in großem Maßstab daran gehindert wurden, nach Schweden zu kommen« – und am Ende womöglich in Auschwitz den Tod fanden. Uppsala kam indes nicht aus heiterem Himmel. Schon im November 1938 waren, wie Lööw in ihrem 2004 im Stockholmer Ordfront Förlag erschienenen Buch Nazismen i Sverige 1924-1979 notierte, Nazischriften wie Die Judeninvasion muß gestoppt werden verbreitet worden.
Von Uppsala ging indes noch ein anderer Impuls aus, der nicht minder mit Auschwitz zu tun hat. Studenten, die sich für das Fach Rassenbiologie interessierten, hatten es nicht weit – sie konnten sich in dem 1922 in Uppsala gegründeten Staatlichen Institut für Rassenbiologie einschreiben. Dessen erster Direktor Herman Lundborg begründete die damals in der schwedischen Gesellschaft weithin akzeptierte faschistoide Rassenlehre.
Das Uppsalaer Institut wurde, wen wunderts, zu einem Wallfahrtsort deutscher Schreibtischtäter, die dem Rassenwahn des deutschen Faschismus Munition und einen quasiwissenschaftlichen Anstrich gaben. In Schweden mündete die Rassenbiologie in Sterilisierungsprogramme zur »Bewahrung eines gesunden schwedischen Volksstammes« – eine Praxis, die nach fast 70000 Sterilisierungen erst 1975 beendet wurde.
Die schwedische Rassenbiologie ist jetzt Teil eines weitreichenden, vom Forum für Lebendige Geschichte koordinierten Forschungsprojektes zum Thema Sverige och förintelsen (Schweden und die Judenvernichtung). Das Stockholmer Kabinett hat inzwischen einen speziellen Beschluß zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels gefaßt, der eine Inventur aller einschlägigen Sammlungen in Universitäten, Museen und so weiter bis spätestens zum 1. Oktober dieses Jahres einschließt. Laut Bildungsminister Leif Pogrotsky soll erkundet werden, »wie eine Gesellschaft aussah, in der sich ein rassenbiologisches Denken und eine wissenschaftlich akzeptierte Forschung auf diesem Gebiet entwickeln konnte«.
Offenbar ist in Sachen Schweden und der Holocaust noch manches zu erkunden. Die 44jährige Forumchefin Heléne Lööw, die sich seit über zwanzig Jahren mit Nazismus und Neonazismus in dem skandinavischen Land befaßt, antwortete auf meine Frage, ob es da noch immer weiße Flecken gibt: »O ja, es gibt noch vieles zu erforschen – wir haben in Schweden ja kaum damit begonnen, und es gibt sehr viele weiße Flecken gerade im Hinblick auf die Lokalgeschichte.«
Das Forum für Lebendige Geschichte ist indes mehr eine Aufklärungs- denn eine Forschungsinstitution. Derzeit versucht es, mit einer großen Schau über die Verstrickungen Schwedens in den Holocaust eine öffentliche Debatte darüber anzuregen. In Wanderausstellungen wird mit neuen pädagogischen Methoden für Toleranz geworben.
Auch die Aufklärung über den Neonazismus wird groß geschrieben. In der Forum-Broschüre Blaugelber Nazismus, die als Studienanleitung dient, ist zu lesen, daß es in Schweden bereits 1956 wieder zur Bildung einer offen nazistischen Formation kam, der Nordischen Reichspartei. Anfang der achtziger Jahre wurde die Rockband Dirlewanger – benannt nach dem SS-General Oscar Dirlewanger, dessen Einsatzgruppe systematisch Juden, Roma und andere »Untermenschen« ermordet hatte – Vorreiter für mehrere Weiße-Macht-Bands. Mit dem Weißen Arischen Widerstand und der Nationalsozialistischen Front (NSF) entstanden in den neunziger Jahren weitverzweigte neonazistische Netzwerke, deren Aktivisten auch vor Mord nicht zurückschrecken.
Rings um den Holocaust-Gedenktag dieses Jahres hat das Forum nicht nur in Uppsala agiert, es arrangierte sechzig ähnliche Veranstaltungen kontra Antisemitismus und Intoleranz. Doch die Wirkung scheint begrenzt zu sein. Zum Stockholmer Gedenken auf dem Wallenbergplatz kamen nur rund hundert Menschen, schon am Tag darauf marschierten annähernd dreihundert NSF-Leute mit Losungen wie Stoppt die Vernichtung unseres Volkes im Stockholmer Zentrum auf.
Wie gefährlich ist der Neonazismus in Schweden? Heléne Lööw meint, er bedrohe nicht die schwedische Demokratie, aber stelle »eine Bedrohung einzelner Menschen und einzelner Gruppen« dar – »nicht zuletzt, weil wir uns in den 1990er Jahren an dessen Existenz gewöhnt haben. Wir reagieren nicht auf die gleiche Weise wie früher, was auf lange Sicht eine Gefahr werden kann.«