Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. Februar 2006, Heft 3

Mit Hamas reden

von Uri Avnery, Tel Aviv

Wie zwei sehr müde Ringkämpfer, die einander umklammert halten und nicht in der Lage sind, sich von einander zu trennen, so kleben die israelische und die palästinensische Gesellschaft aneinander.
Die palästinensischen Wahlen in dieser Woche finden im Schatten der israelischen Wahlen statt. Wer ist Ehud Olmert? Hat sich die Labour-Partei wirklich verändert? Wird die nächste israelische Regierung wirklich zum Verhandeln bereit sein? Welche Führung kann uns besser von der Besatzung befreien?
Die israelischen Wahlen – in zwei Monaten – werden im Schatten der palästinensischen Wahlen stattfinden. Was kann man nach dem Sieg der Hamas tun? Sollen wir bereit sein, mit einer palästinensischen Regierung zu verhandeln, die – Gott bewahre! – einen Hamas-Minister hat? Palästinenser wissen eine Menge über die israelische Demokratie. Aber für Israelis ist eine palästinensische Demokratie eine unbekannte Größe.
Natürlich beweisen Wahlen an sich noch nicht, daß das System wirklich demokratisch ist. Es gibt alle möglichen Arten von Wahlen. So kursierte zum Beispiel in der Sowjetunion folgender Witz: Einem Wähler, der ein Wahllokal betrat, wurde ein geschlossenes Kuvert gegeben. Ihm wurde gesagt, er solle dies in die Wahlurne stecken. »Warum? Darf ich nicht wissen, wen ich wähle?« fragte er. »Natürlich nicht,« erwiderte der Funktionär empört, »in der Sowjetunion haben wir geheime Wahlen!« Das Gegenteil davon spielte sich in einem ägyptischen Dorf ab, das ich vor Jahren an einem Wahltag besuchte. Der Ort war in einer fröhlichen Karnevalsstimmung. Im Wahllokal war alles offen. Was sollte denn auch versteckt werden? Freundliche Polizisten halfen alten Frauen, den richtigen Zettel – für Mubarak – in die Urne zu stecken. Es gab keinen anderen Kandidaten.
Aber keiner, der in den vergangenen Wochen die Westbank besuchte, konnte einen Moment daran zweifeln, daß sich hier die erste hausgemachte arabische Demokratie entwickelt – die erste wirkliche Demokratie in der arabischen Welt. Es gab zwar ein paar Anzeichen von Anarchie: Hier und dort bedrohten bewaffnete Gruppen einander. Aber das waren von den Medien stark übertriebene Randerscheinungen.
Der Wahlkampf war real, die Parteien waren real, die Politiker kämpften um Macht und Einfluß. Jede halbwegs glatte Fläche in den Dörfern und Städten war mit bunten Wahlplakaten beklebt. Ohrenbetäubende Lautsprecher plärrten Slogans und Lieder. Und besonders wichtig: Die Wähler waren mit einer echten Wahl zwischen alternativen und klaren Wahlprogrammen konfrontiert – etwas, was bei israelischen Wahlen keinesfalls sicher ist.
Es ist nicht einfach, Wahlen unter Besatzung abzuhalten, wenn der Besatzer offen gegen eine der großen Parteien kämpft, Kandidaten verhaftet oder sogar tötet, bedeutende Führer im Gefängnis festhält und überall Sperren errichtet. Und wie erwartet, wenn eine dumme Militärmaschine sich in politische Angelegenheiten einmischt, sind die Ergebnisse genau das Gegenteil von den beabsichtigten: Die Aktionen der israelischen Regierung gegen die Hamas haben ihr nur geholfen.
Ich sprach mit einem der Fatahführer über die Aktionen der israelischen Regierung gegen Hamas im besetzten Ost-Jerusalem, wo Wahlveranstaltungen verboten, Kandidaten verhaftet und Wahlplakate abgerissen wurden. Der Mann lachte: »Was denken Sie? Daß Hamas-Anhänger Wahlveranstaltungen und Wahlposter braucht, um zu wissen, wen man wählen soll? All dies erhöht ja nur die Anziehungskraft der Hamas.« Die Ergebnisse zeigen, daß er recht hatte.
Wie kommt es, daß diese Palästinenser so nach einem demokratischen Leben verlangen? In dieser Sache besteht ein großer Unterschied zwischen den Generationen – ein Unterschied, der einer der offensichtlichsten Phänomene in der palästinensischen Gesellschaft ist.
Die ältere Generation und besonders die Führer, die nach dem Oslo-Abkommen mit Arafat aus Tunis zurückkamen, haben nie in einer demokratischen Gesellschaft gelebt. Arafat selbst hat sein Leben in verschiedenen arabischen Diktaturen verbracht: in Ägypten, Kuwait, Jordanien, Tunesien, Libanon. Das Modell, an das die älteren Leute denken, ist eine sehr begrenzte »Demokratie« im jordanischen Stil.
Die mittlere Generation hat völlig andere Ideen. Zehntausende von ihnen sind längere Zeiten in Israels Gefängnissen gewesen. Dort lernten sie Hebräisch, hörten Radio Israel und schauten israelisches Fernsehen. Sie haben gesehen, wie israelische Demokratie funktioniert. Das wäre ein Modell, das sie gerne adoptieren würden. Mein Freund Sirhan Salameh, nun der Bürgermeister von A-Ram, der zwölf Jahre im Gefängnis verbrachte, erzählte mir: »Woran wir den größten Spaß hatten, waren die Szenen in der Knesset, wo jeder den Ministerpräsidenten anschreien konnte. Wir verglichen dies mit der Situation in arabischen Parlamenten. Wir entschieden uns, daß wir uns solch ein Parlament wünschten.«
Es muß ganz klar gesagt werden: Diese Wahlen sind eine große Errungenschaft für die palästinensische Gesellschaft, einen Ehrentitel für ein Volk, das unter der Besatzung leidet, dessen unabhängiger Staat noch ein Traum ist. Jeder sollte vor ihr den Hut ziehen!
In Israel standen die palästinensischen Wahlen im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Ehud Olmert, der seine Stellung als stellvertretender Ministerpräsident ausbauen möchte, berief eine Konferenz des üblichen Haufens von Generälen und Shin Bet-Typen ein. Was kam dabei heraus? Israel wird nicht mit einer palästinensischen Regierung verhandeln, wenn sie Hamas einschließt.
Das ist Unsinn mit Tomatensoße, wie man auf Hebräisch sagt. Oder in diesem Fall Unsinn mit Blut. Israel muß mit jeder palästinensischen Führung verhandeln, die vom palästinensischen Volk gewählt wurde. Wie in jedem anderen Konflikt wählt man nicht die Führung des Gegners – zum einen, weil der Gegner nicht damit einverstanden wäre und zum anderen, weil ein Abkommen mit solch einer Führung nicht halten würde. Je stärker die Führung ist, um so besser. Wenn ein Abkommen erreicht wird, ist es entscheidend, daß sich alle Sektionen der Bevölkerung daran gebunden fühlen – und gerade die extremsten Fraktionen eingeschlossen wird. Hätte sich Hamas nicht dafür entschieden, an den Wahlen teilzunehmen, dann hätte sie dazu gezwungen werden müssen.
Palästinenser, die bereit sind, mit Israel zu verhandeln, erkennen schon dadurch den Staat Israel an. Das ist logisch. Aber Generäle und Politiker sind keine Professoren der Logik – was wissen sie schon über Verhandlungen und Abkommen?
Auf der palästinensischen Seite: Allein die Tatsache, daß Hamas an den Wahlen teilnimmt, die ihre Grundlage im Oslo-Abkommen haben, beweist, daß das palästinensische politische System sich in Richtung Frieden bewegt. Obwohl der Hamas-Sieg wie ein Rückschlag für den Frieden aussieht, kann das wirkliche Ergebnis ganz anders aussehen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; von der Redaktion geringfügig gekürzt