Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

Zu eng gedacht

von Heerke Hummel

Die Linksfraktion hat eine Alternative«, hört man nicht erst seit ihrer Magdeburger Klausur. Experten wie Rudolf Hickel, Gustav Horn oder Elmar Altvater hatten der Auseinandersetzung mit dem herrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodell eine wissenschaftliche Fundierung gegeben.
Selbstverständlich werden die Erwartungen der Wählerschaft erfüllt, wenn Lohnerhöhungen gefordert werden, wobei Gysi mit dem Beispiel des europäischen Auslandes argumentiert, wo Zuwachsraten bis zu 25 Prozent festgestellt wurden. Nichts gegen höhere Löhne, und von mir aus auch bis zu 25 Prozent! Doch ist damit die Oppositionsrolle wirklich ausgefüllt? In der heutigen Welt wird, um den geschaffenen Neuwert in Lohn und Profit teilen zu können, der Wert von Produkten nicht mehr auf einem anonymen Warenmarkt ermittelt. Das Geld hat sich durch seine Abkopplung vom Edelmetall aus einer Ware mit einem eigenen Wert und Gebrauchswert in ein Arbeitszertifikat verwandelt. Heute werden für einen weitgehend gestalteten Markt die Preise der Güter über die Kosten kalkuliert. In einer solchen Welt sind die höheren Löhne von morgen die gesteigerten Preise von übermorgen. Jede Währungseinheit repräsentiert weniger Arbeit, wenn für dieselbe Arbeitsmenge mehr Währungseinheiten gezahlt werden. Schleichende Inflation ist also vorprogrammiert.
Schließt dieser Sachverhalt Lohnsteigerungen kategorisch aus? Nein! In einem so dynamischen System wie der modernen (Welt-)Wirtschaft kann es kein starres Lohngefüge geben. Aber dieses muß eben in Korrelation mit vielen anderen ökonomischen Größen gesehen werden, insbesondere im internationalen Vergleich. Linke Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte deshalb immer den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als ganzen, auch international, im Auge haben. Und von daher müßte mit linker Politik – neben der Lösung der wirklich dringendsten nationalen Probleme wie der Einführung von Mindestlöhnen (und auch Maximalgehältern) – wenigstens im europäischen Rahmen ein struktureller Ausgleich programmatisch angestrebt werden, der eben diesen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß kontinuierlich und ohne Eruptionen und Krisen in Fluß hält.
Europaweit und global muß dank einer entsprechenden Finanzpolitik verbraucht werden können, was die Gesellschaft zu produzieren in der Lage ist. Verzicht auf Zinsnahme für Kredite ebenso wie entwicklungsfördernde Preisstrukturen und Bildungsinvestitionen könnten schon heute so viel Beschäftigung in den Industrieländern bewirken, daß Arbeitslosigkeit kein Thema mehr wäre. Und niemand würde dadurch ärmer in einer Welt, deren Probleme nicht aus Überkonsumtion, sondern – im Verhältnis zu ihren produktiven Möglichkeiten – aus Unterkonsumtion resultieren und die an der Illusion leidet, ihre Finanzberge seien Reichtum, während sie doch nur den Gegenpol schon nicht mehr begleichbarer Schuldenberge darstellen.