Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

Stabile Instabilität

von Roland M. Richter, Kiew

Am 6. März 2006 werden in der Ukraine die Abgeordneten zum Parlament, der Werchovna Rada, was übersetzt nicht mehr heißt als Oberster Rat (oder Oberster Sowjet …) neu gewählt. Die Parlamentswahlen in der Ukraine verlaufen 2006 nach einem neuen Muster. Es gibt keine Wahlkreise mehr, in denen Direktkandidaten gewählt werden. Alle Plätze im neuen Parlament werden nach dem Verhältniswahlrecht vergeben. Die Schwelle, um bei dieser Verteilung berücksichtigt zu werden, beträgt drei Prozent. Diese Hürde zu überwinden, dürfte für die meisten der mehr als 130 politischen Parteien und Vereinigungen ausgeschlossen sein. Darum bemühen sich viele der kleineren Parteien, mit größeren zusammenzugehen und politische Blöcke zu bilden. Die politischen Programme der Parteien unterscheiden sich häufig alleinig in der Frage: wirtschaftspolitische Orientierung auf Rußland oder auf die USA/EU. Darin scheiden sich wirklich die Geister. Dies ist der entscheidende Grund für Koalitionen. Jedoch darf ein anderer keineswegs vergessen werden: persönliche Ambitionen! Häufig überspielen sie sogar die Frage nach West- oder Ostorientierung! Ein hervorstechendes Beispiel ist die Ex-Premierministerin Timoschenko.
Allerdings kommt diesen Wahlen noch eine weitere Bedeutung zu: Die Politreform in der Ukraine mit dem Umverteilung der Befugnisse zwischen Präsident und Parlament begann am 1. Januar 2006 zu wirken. Der nächste Premier und dessen Regierungsmannschaft werden nicht mehr vom Präsidenten bestimmt und vom Parlament nur noch abgesegnet, sondern direkt vom Parlament gewählt. Damit ist der Premier nicht mehr vom Wohlwollen des Präsidenten abhängig, sondern von der Zusammensetzung des Parlaments, vom zukünftigen Kräfteverhältnis in der Werchovna Rada! Als erster hat dies der amtierende Premier zu spüren bekommen, der am 10. Januar wegen des Gaspreisabkommens mit Rußland vom Parlament abgewählt wurde, aber wohl noch bis zu den Wahlen amtieren darf.
Gegenwärtig zeichnen sich folgende politischen Verbindungen ab: Die Partei der Regionen unter dem früheren Premier Janukowitsch bildet den Block unter seinen Namen, in den sich insbesondere in der Ost-Ukraine beheimatete Organisationen eingliedern. Interessanterweise gelang es Janukowitsch, den reichsten Mann der Ukraine, den Multimilliardär Achmetow, Besitzer der Industrie im Donbass, in seine Kandidatenliste auf Nummer sieben zu setzen. Die Vaterlandspartei unter Julia Timoschenko umgibt sich mit kleineren nationalistischen Organisationen und bildet den Block Julia Timoschenko (BJuT). Die Juschtschenko-Organisation Nascha Ukraina (Unsere Ukraine) geht gemeinsam mit kleinen zentristischen Organisationen des Mittelstandes ins Rennen. Auf dem ersten Platz der Kandidatenliste steht Präsident Juschtschenko. Das ist zumindest ungewöhnlich, da der Präsident laut Gesetz nicht Parlamentsmitglied sein darf, und andererseits Juschtschenko sicherlich nicht im mindesten daran denkt, nach den Wahlen als Präsident zurückzutreten. Hier soll die alte Anhängerschaft der »orangenen Revolution« erneut unter den Parteifahnen gesammelt und zur Stimmabgabe für Nascha Ukraina gewonnen werden. Der Name des Präsidenten ersetzt das Programm.
Allein ins Rennen zu gehen beabsichtigen die linkszentristischen Vereinigten Sozialdemokraten und die Kommunisten, ebenso die Unabhängigen Sozialisten unter Frau Witrenko. Unentschieden sind noch die Sozialisten unter ihrem Parteiführer Moroz. Einerseits bindet ihn die politische Vergangenheit, der Kampf gegen seinen Privatfeind Kutschma, an Frau Timoschenko, andererseits sind die Sozialisten nach deren Entlassung durch den Präsidenten nicht aus der Regierung ausgeschieden und stehen weiterhin zu Juschtschenko. Den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde könnte ebenfalls die Volkspartei des gegenwärtigen Parlamentspräsidenten Litwin schaffen. Auch sie versucht, um sich weitere kleinere kleinbürgerliche Parteien und Vereinigungen bis hin zu den Grünen zu versammeln und schließt keinerlei Koalitionen aus.
Knappe zwei Monate vor dem Wahlgang stellt sich aus Meinungsumfragen in der Ukraine folgendes Stimmungsbild dar: Für Janukowitsch wollen zwanzig bis dreißig Prozent der Wähler ihre Stimme abgeben, womit er seine Gefolgschaft aus dem Jahr 2004 quasi konstant halten würde. Auf dem zweiten Platz würde BJuT einkommen mit zehn bis fünfzehn Prozent, unmittelbar gefolgt mit etwa dem gleichen Ergebnis von Nascha Ukraina. Relativ sicher würden die Kommunisten und die Sozialisten mit jeweils etwa fünf Prozent ins Parlament einziehen. Litwins Volkspartei muß mit drei bis vier Prozent noch zittern und bangen.
Sollte es zu dieser Kräfteverteilung im neuen Parlament kommen, sind vielerlei Koalitionen denkbar: Ziemlich sicher ist, daß sich die Kommunisten an keinen Block binden werden und die Volkspartei eher zu Janukowitsch als zu Timoschenko tendiert. Die Sozialisten werden sich schon aus Prinzip konträr zu den Kommunisten verhalten und auf jeden Fall um eine Regierungsbeteiligung kämpfen, eher wohl im Rahmen der Nascha Ukraina, aber auch unter einem Premier Timoschenko.
Ein Zusammengehen von Juschtschenko mit Janukowitsch ist zwar nicht ausgeschlossen, aber doch eher unwahrscheinlich und könnte nur mit dem Ziel der Abwehr extraordinärer Forderungen von Frau Timoschenko zustandekommen. Bleibt letztere das Zünglein an der Waage, eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben ist. Sie wird keiner Koalition beitreten, die ihr nicht den Premiersessel garantiert! Janukowitsch kann dies wohl nicht seiner Wählerschaft zumuten, von Juschtschenko wird es die seinige sogar fordern. Damit ist eine Koalition von Juschtschenko, Timoschenko und Moroz mit Timoschenko als Premier und Juschtschenko als Präsident trotz aller persönlicher und politischer Differenzen zwischen beiden wohl am wahrscheinlichsten – eine auf Dauer brüchige Koalition mit rechtszentristischer und national-populistischem Regierungsprogramm. Der Ausgang der ukrainischen Parlamentswahlen dürfte lediglich den Auftakt zu neuen politischen Instabilitäten in Kiew und Umgebung bilden.