von Klaus Hart, Rio de Janeiro
Nicht nur in Deutschland wird Oscar Niemeyer mit Lob überhäuft. Als Kronzeuge für die Großartigkeit seiner Werke dient er gewöhnlich selber. Er gilt als Schöpfer der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Sämtliche öffentlichen Gebäude, darunter der Nationalkongreß und der Präsidentenpalast, wurden von ihm entworfen. Brasilia zählt seit 1987 zum UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit. Brasilianische Experten hingegen sparen nicht mit Kritik. Es wird gern der Schweizer Architekt Max Bill zitiert, der bereits 1954 ein Niemeyer-Projekt mit den Worten charakterisierte: »Das ist das Ende der modernen Architektur. Das ist antisoziale Vergeudung, ohne Verantwortung«.
Oscar Niemeyers eigentliches Hauptwerk sind über fünfhundert öffentliche Schulen in Rio de Janeiro, in denen jeweils bis zu eintausend Kinder, meist aus den Slums, unterrichtet werden. Diese zweistöckigen Schulen heißen offiziell CIEP, Integriertes Zentrum für öffentliche Bildung. Sie wurden aus Fertigteilen gebaut und sehen wie eckige, graue Betonkästen aus. In einer der lautesten Städte der Erde wurden sie nach dem Willen der Regierenden stets an auffälliger, gut sichtbarer Stelle errichtet, also dort, wo der Verkehrslärm am größten ist. Auch der CIEP Tancredo Neves in der Rua do Catete hat keine Schallschutzfenster. Man betritt die Schule und stutzt sofort: In sämtliche Klassenzimmer links und rechts des düsteren Korridors kann man bequem hineinschauen, Schüler und Lehrer beobachten – denn die Seitenwände der Räume sind zum Mittelgang hin nur etwa anderthalb Meter hoch, wurden also nicht bis zur Decke hochgezogen. Das bedeutet: Alle hören alles von allen. Die einen haben Physik, andere Mathe, Portugiesisch – andere singen Sambas, wieder andere schreiben eine Prüfungsarbeit.
Die Lehrerinnen des CIEP Tancredo Neves nennen die Wände ein Absurdum. »Der Krach hier ist enorm – wollen wir uns durchsetzen, müssen wir notgedrungen die Stimme heben, ständig dagegen anschreien. Viele haben deshalb Probleme mit den Stimmbändern, müssen sich operieren lassen. Jeder Pädagoge hört ja auch die Kollegen unterrichten, das lenkt ab, macht nervös – es ist wirklich schwierig hier.« In den Klassenzimmern werden tatsächlich bis zu 85 Decibel gemessen.
Kritik an den von ihm entworfenen Schulen oder Verbesserungsvorschläge, die ihm Delegationen von CIEP-Direktoren und -Lehrern vortrugen, sowie heftige brasilianische Medienkritik hat der Architekt bislang regelmäßig abgeschmettert. Fußballidol und Multimillionär Pelè lobt die CIEPs in mehrseitigen Farbanzeigen der Rio-Regierung als durchweg hervorragende Schulen – es seien solche wie in der Ersten Welt, die auch exakt wie dort funktionierten.
Joaquim Guedes zählt ebenfalls zu den Größen der brasilianischen Baukunst, ist zudem Lehrstuhlinhaber für Architektur an der Bundesuniversität von São Paulo. Guedes ist seit jeher Niemeyer-Kritiker, die CIEPs von Rio sind für ihn exemplarische Fehlleistungen Niemeyers: »Er ist unfähig, echte Architektur zu machen, diese Schulen beweisen es. Er entwirft Formen – aber das ist doch noch keine Architektur. Er konstruiert Formen entgegen den menschlichen Bedürfnissen, respektiert nicht einmal technologische Aspekte. Von einem großen Architekten erwartet man, daß er sich in die Probleme der menschlichen Existenz vertieft, die besten Lösungen sucht. Aber Schulen, in denen die Wände nicht mit der Decke abschließen – das ist doch verrückt, das ist doch Wahnsinn, absurd! Und dann auch noch dasselbe falsche Projekt ewig wiederholt, nie spezifischen örtlichen Gegebenheiten angepaßt. Wie kann er gerade die am meisten Benachteiligten mit diesen CIEPs so mißhandeln, deren Ausbildung so schädigen!«
Das von Niemeyer am Reißbrett entworfene Brasilia, oft als Niemeyers Hauptwerk betrachtet, ist für Joaquim Guedes »de facto ein rein autoritärer Akt – große ökonomische Interessen, dazu eine große politische Chance für den damaligen Staatschef Juscelino Kubitschek – der natürlich seinen Freund Niemeyer engagierte. Dieser tat alles, damit seine Projekte den Staatschef noch mehr herausstellten, ihn als Volkshelden, Volkstribun erstrahlen ließen.«
»In der Menscheitsgeschichte«, so Guedes weiter, »gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer – denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte. Er arbeitete für das Militärregime, obwohl er es gleichzeitig kritisierte. Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte. Weil ich Niemeyer kritisiere, werde ich gelegentlich als Vaterlandsverräter angesehen. Schon vor dreißig Jahren, als ich Professor an der Universität von Strasbourg war, verlangte ein Mitglied der kommunistischen Partei von mir, daß ich in Frankreich jegliche Kritik an Niemeyer unterlasse.«
Guedes, der sich zur brasilianischen Linken rechnet, aber Lula und seine Mannschaft seit langem als unethisch, lügnerisch ablehnt, blickt vom Bürofenster auf die Skyline der Betonwüste São Paulo: »Alles einfach entsetzlich – diese Gebäude sind grauenhaft, uma Barbaridade!« Niemeyer hat in der City unter anderem den COPAN-Block beigesteuert, in dem fünftausend (!) Menschen wohnen.
Rio de Janeiros Stadion für die weltberühmte Karnevalsparade, das Sambodrome, halten just die Hauptnutzer, nämlich die Sambaschulen, für völlig fehlkonstruiert, für kontraproduktiv, für nackten, häßlichen Beton. »Niemeyer hatte sich zuvor nie eine Parade angesehen, konsultierte wie üblich niemanden vom Fach, machte wie bei den CIEPS und Brasilia wieder die typischen Fehler«, urteilte Architekturprofessor William Bittar von der Bundesuniversität der Zuckerhutstadt. »Niemeyers Sambodrome nahm dem Karneval viel von seiner Spontaneität.« Guedes sagt weiter zu dem Ärger, den er sich mit der Niemeyer-Kritik eingehandelt hat: »Meine Argumente werden beiseite geschoben, blockiert. Manche reden erst gar nicht mit mir, führen aber einen verdeckten Krieg gegen mich.«
Derzeit entwirft Niemeyer ein Freizeitbad für Potsdam – die deutsche PR-Journalistik ist schon dabei, erneut kübelweise unkritische Würdigungen des Maestro in die Medien zu gießen.
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