Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

Mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände

von Brigitte Struzyk

Es ist so voll wie schon beim letzten Mal. Ich bin heute etwas später dran, die Kinder weinen schon. Die ganz kleinen schreien. Ich nehme mir vor, sollte ich heute noch drankommen, werde ich den Vorschlag machen, zuerst die Mütter und Väter mit den kleinen Kindern zu »bearbeiten«. Das müßte doch im Computerzeitalter möglich sein.
Im etwa 25 Meter langen Raum ertönt vom anderen Ende die Stimme eines Sachbearbeiters, und der Gerufene irrt durch den Raum, bringt eine Art Menschenslalom hinter sich, ohne zu ahnen, wohin er muß. Der Rufer reckt die Arme wie ein Reiseleiter vor der Abreise seiner japanischen Touristengruppe, die auf einen Nachzügler wartet.
»Sisyphos«, wird gerufen, ganz deutlich: »Sisyphos!« Dann schickt der Rufer hinterher: »Oder so ähnlich!« Zielgerichtet eilt ein geheimnisvolles Männchen zum freien Kundenstuhl. Er wälzt einen unsichtbaren Stein vor sich her.
»Meine« Sachbearbeiterin öffnet die untere Schublade ihres Schreibtisches und wirft die Akte des eben Bedienten auf eine Trinkflasche. Max legt sich mit der Wange auf seinen Plüschhund. »Sie haben keinen Anspruch!« schallt es hinter einem Flachbildschirm hervor.
»Herr Spät!« Ein guter Name, hier und heute. Wieso kann ich in dem zierlichen Mädchen vor mir schon die Matrone sehen, frage ich mich, als ich aufgerufen werde. Es ist nicht »meine«, aber als mir der Sachbearbeiter sagt: »Da ist noch nichts passiert! Was machen wir denn da?« und ich ihm ankündige, seine Kollegin ein wenig schütteln zu wollen, damit ihr einfällt, was sie mir vor elf Tagen versprochen hat, wird er geschäftig. »Die hat getan, was sie konnte«, wiegelt er ab und schreibt für mich einen Notlaufzettel. Damit soll ich ins alte Amt über die Straße gehen, in die eigentliche Arbeitsagentur, dann wird mir dort geholfen.
Und nun beginnt das Wunderbare dieser Geschichte. Nein, das ist nicht neu, daß einem die Sachbearbeiter beipflichten, beschwert man sich, nein, dieses zustimmende Nicken und das ironische Grinsen habe ich schon oft bei ihnen gesehen, und deshalb fällt es mir auch nicht im Traume ein, ihnen die Schuld zu geben, auch wenn ich »meine« Schildpattfrau vom Wartebereich 3 eben doch am liebsten geschüttelt und geweckt hätte. Daß aber der Mann mit dem adligen Namen – ja, er stellt sich sogar vor – von seinem Schreibtisch aufsteht, mich in dem Zimmer allein läßt, um meinen Antrag zu suchen, mit dem unbearbeiteten Aktenstück zurückkehrt, sich dafür entschuldigt, daß mein rechtzeitig abgegebenes Papier so unberührt geblieben ist! Diese Aktion und das Eingeständnis rühren mich zu Tränen, so daß ich zu weinen beginne und der Kavalier mir ein Tempo-Taschentuch zuschiebt. Angesichts des Schriftzugs auf der Verpackung müssen wir beide lachen.
Er öffnet den Aktendeckel, entnimmt meinen Antrag – eine Offenbarung!, nimmt ihn aus der amtlichen Umhüllung und beginnt unter meinen Blicken das Dokument zu bearbeiten.
»Solange die Verwaltung sich ausbreitete und vergrößerte, mußte sie eine immer größere Zahl von Angestellten einstellen, und unter ihnen waren unweigerlich schlechte oder sehr schlechte«, lese ich bei Milan Kundera, der seinen Artikel Das verwaltete Schloß untertitelt hat mit der schlüssigen Formulierung »Die Moderne, das ist die Bürokratisierung des sozialen Lebens« (Süddeutsche Zeitung vom 23. Juli 2005). Ich habe vor mir einen unweigerlich guten Angestellten!
»Das Konzept Zeit: Wenn ein Mensch sich einem anderen entgegenstellt, stellen sich zwei gleiche Zeiten gegeneinander. Zwei begrenzte Zeiten vergänglichen Lebens. Heute hingegen sind wir nicht mehr miteinander konfrontiert, sondern mit Behörden, deren Existenz weder Jugend noch Alter, weder Müdigkeit noch Tod kennt und sich außerhalb der menschlichen Zeit abspielt. Der Mensch und die Behörde leben verschiedene Zeiten.«
Genau an diesem Graben sitzen wir beide uns gegenüber, und aus diesem Dilemma heraus speist sich meine Ergriffenheit, die merkwürdig gemischt wird mit Unbehagen, dem märchenhaften Unbehagen vergleichbar, da der Held die verbotene Tür öffnet und sein blaues Wunder erlebt. »Der bürokratische Fehler wird die einzige Poesie (schwarze Poesie) unserer Zeit.«, faßt Kundera zusammen.
Wir beide hier an der Nahtstelle kooperieren. Er fragt nach, ich antworte, scheinbar mühelos, wie wir kommunizieren, rundet sich die Bearbeitung. Nach einer halben Stunde in einer geschützten Situation, die aber immer wieder unterbrochen wird durch eintretende Mitarbeiterinnen, Bittsteller und Fehlgeleitete, ist der Antrag fertig bearbeitet.
Irgendwie übermütig geworden, spreche ich aus, was ich mir im Wartebereich 3 vorgenommen habe. Könnte man nicht die Wartenden mit kleinen Kindern bevorzugt behandeln? Hätte es einen Sinn, so einen Vorschlag der Leitung zu unterbreiten?
»Tun Sie das jaanicht! Die Leute dürfen ja eigentlich gar nicht die Kinder mitbringen! Im Extremfall könnte man ihnen dafür die Leistungen kürzen, wenn nicht sogar streichen!«
»Max! Hast-du-jetzt-verstanden!« sägt die genervte Mutter Ungeduld in Silben. Ein Mitarbeiter kniet vor dem Flachbildschirm meiner Sachbearbeiterin vom letzten Mal. Er nimmt der Lächelnden die Arbeit aus der Hand, führt die Maus an ihr vorbei. Ihr Lächeln sinkt. Das Gesicht bekommt einen Schildpattschimmer. Über den Graben hinweg erhalte ich noch einige mitmenschliche Tips, die nicht hierhergehören, und verlasse erleichtert und befangen zugleich meinen Unweigerlichen, der versichert hat, jetzt kann es nicht mehr lange dauern; ich hätte ja gesehen, daß er den Antrag bearbeitet hat.

26. Juli
Die Mißtrauenslage im Lande wurde am Freitag, dem 22. Juli, von der positiven Entscheidung des Bundespräsidenten dramatisch aufgeladen. Es wird Neuwahlen geben.
Mein Bescheid ist noch nicht da. Ich lande wieder im Wartebereich 3. Heute stehen fast mannshohe Trennwände zwischen den behördlichen Schreibtischen. Im Mittelgang wurden zwischen den Säulen Stühle aufgestellt, neben die amtliche Sitzgruppe aus Blech. Die Kinder spielen. Ein Neugeborenes wird betuttelt. Alle Plätze sind besetzt. Es gibt wieder die »Grillgruppe« und die Meditationsecke. Auf einem freien Blechsitz liegt ein Päckchen Zigarettenpapier. Die Tüte steht draußen vor der Tür.
Das große Schreien beginnt. Wie auf Befehl wimmern, weinen, schreien, krächzen die zahlreichen Kleinkinder. Das gehört eben dazu. So sieht Toleranz aus. Allmählich bemächtigt sie sich auch meiner, und nach vier Stunden Warten druckt mir meine Sachbearbeiterin den Bescheid aus. »Kann ja mal passieren«, sagt die gute Verfasserin von schwarzer Poesie. Ich bin froh, das Papier in den Händen zu halten, mit dem ich mir gleich Stempel und Unterschrift auf meiner Sozialkarte holen werde, und im neuen Monat dann, der vor der Tür steht, wieder das Sozialticket der BVG kaufen kann, das dann auch schon wieder teurer sein wird. Aber auf keinen Fall werde ich soviel ausgeben müssen wie im vergangenen Monat. Als ich meinen Bescheid über die Theke reiche, schaut die Frau gar nicht hin und drückt mir den Stempel gewissermaßen blind auf die Karte.
Du bist einfach zu dämlich, rede ich stumm auf mich ein.
»Wen soll man denn überhaupt noch wählen?«, ruft jemand laut durch die Empfangshalle.
Ein Gefangenenchor von Gelächter antwortet ihm.