Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

Herr G., die Uckermark und der ADAC

von Eckhard Mieder

Ich halte Herrn G. für einen flexiblen Mann, der bei aller Geschmeidigkeit feste Ansichten hat. Den Wechselfällen des Lebens begegnet er korrekt gekleidet, mit seinem Seidentüchlein um den Hals beinahe verwegen, und in gerader Haltung. Und Mitglied im ADAC zu sein, gehört zur Grundausstattung bürgerlicher Geborgenheit. Neulich sehnte ich mich nach Herrn G.’s klaren Ansichten vom Leben und nach seiner altbundesdeutschen Solidität. Als ich zwischen den Seen nördlich von Berlin eine Woche Ferien machte.
In Feldberg mußte ich mir sagen lassen, daß es zwar Bratkartoffeln gäbe. Ein Spiegelei darauf indessen – das sei unmöglich. Mein Hinweis, daß doch auch Hamburger Schnitzel im Angebot seien, worauf meines Wissens ein Spiegelei gehöre (schon zu Zeiten, als das Café am Haussee vermutlich noch zentralistisch versorgt und den zuständigen Proviantämtern des Bezirkes Neubrandenburg unterstand), wurde von der Bedienung abgeschmettert. Spiegelei so sei nicht vorgesehen. Und ich möge sie verstehen, sie sei hier nur angestellt und befolge die Anweisungen der Küche.
Devot und triumphierend schlurfte sie zur Theke, die bestellten Getränke zu ordern. Schorle und Tee gab’s. Ich bewunderte die charakterliche Balance der Servierin: untertänig und dünkelhaft zugleich zu sein.
Einen Tag später stellte ich mein Auto auf einem Feldweg ab. Einen Felsengarten anzuschauen, den tüchtige Bürger bei Carwitz angelegt hatten. Der riesige Feldstein, Hüter genannt und gestiftet von der BINGO-Lotterie, beeindruckte mich. Mit kleineren Felsen war die Kontur eines Mammuts gelegt worden. Eine Luftaufnahme, verblaßt durchs Wetter, zeigte es.
Ein bißchen war mir nach Stonehenge und Ewigkeit und Wunder der Natur. Und erst das Wunder Mensch! Stolz stieg in mir auf, als ich vom Widerstand der Bürger las. Nebbich hatte jemand die Äcker, worauf die Steine zum Zwecke der touristischen Volksbildung liegen, von der Treuhand hektarweise aufgekauft, um eine Kiesgrube in die Landschaft zu lochen. Das bundesdeutsche Bergbaurecht ist ein anderes als das der DDR. Ich weiß nicht, worin die Unterschiede bestehen, aber jemand kannte sich aus. Mit den Lücken. Und mit den Ämtern und Geldern und Spekulations-, Steuer- oder sonstigen Gewinnschöpfungen. Und wollte seinen Reibach machen. Aber da setzte sich das Uckermärkische Volk zur Wehr! Und siegte. Stolz bis zum Halse war ich, stellvertretend für allen Widerstand von Spartacus bis Bohley!
Noch stand ich vor dem Hüter, und keine Sehnsucht nach Herrn G. oder nach Frankfurt am Main befiel mich, als sich ein Auto vom Walde her näherte. Ein Franzose, Renault. Der Fahrer gab Gas. Plötztlich. Gab Gummi, stieg ins Eisen, brettert auf meinen Japaner los und – bremste. Eine Briefmarke paßte zwischen die Stoßstangen unserer Lieblinge.
Im Gesicht des Mannes sah ich stumpfen Behauptungswillen. Im Huhngesicht der Beifahrerin sah ich nur brackige Schicksalsergebenheit. Der Mann, um die dreißig, wartete. Ich wartete. Bis ich begriff. Er gab mir zu verstehen, daß ich gefälligst den Weg zu räumen hätte. Ob nun wegen des Frankfurter Nummernschildes oder überhaupt, oder ob er gerade mit seiner Beifahrerin Zoff hatte und seine rasende Schüssel als Fluchtauto gedacht war (nur daß sein Weib neben ihn saß und bei ihm blieb, in guten wie in schlechten Zeiten) – er stand und wartete.
Da verwandelte ich mich. Aus dem Manne, der aus dem Osten stammt, wurde der Mann, der aus dem Westen kam. Ich zog meinen Gurt zurecht, fühlte nach meinem Revolver und schritt langsam und breitbeinig auf den Franzosen zu. Ich fragte ihn ruhig und gelassen, ob er etwa an meinem Japaner vorbeiwolle.
Da er nicht reagierte, sondern noch immer in einer Art vorpommerscher Vereisung durch die Windschutzscheibe in eine ferne Zukunft respektive Vergangenheit blickte, schlug ich ihm gelassen vor, er möge ein Stück zurücksetzen. Ich führe dann an ihm vorbei in eine Buchte des Weges, und dann könne er weiterfahren.
Ich sprach energisch, ruhig, zielorientiert. Kam mir ein bißchen kolonial vor. Offiziersmäßig. (Gut, daß ich gedient habe; man staunt, was einem im Leben so nützen kann; anderthalb Jahre Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee sind plötzlich ein Standortvorteil. Und hatte doch fast vergessen, daß ich Oberleutnant d. R. bin.) Half aber.
Ich rechnete damit, daß er zuerst zog. Mein Vorschlag lief auf seine Niederlage hin. Er müßte den Wagen in die Richtung fahren, aus der er wütend kam. Für einen Augenblick wünschte ich mir, daß er seinen Wagen verließe und mir als Mann gegenüberträte. Was tat er? Er ließ den Motor aufjaulen, fuhr genau so weit zurück, daß ich mein Auto knapp an ihm vorbei nach vorne und zur Seite bewegen konnte. Und dann stieg er wieder ins Pedal und brauste davon.
Dachte ich plötzlich und verwirrt in diesem Augenblick wirklich, daß Faschismus auch mit solchen Typen und solchem Verhalten beginnt, irgendwie? Und Kolonialismus mit einem Typen wie mir, irgendwie?
Und da packte mich beinahe die Sehnsucht nach der Bürgerlichkeit und nach Herrn G. und nach Frankfurt am Main.
Ich sah mich neben ihm stehen, einen Tag, bevor ich in die Uckermark fuhr, und wir sprachen über deutsche und asiatische Autos und über den ADAC. Als ich ihm sagte, wohin morgen die Reise ginge, schwärmte Herr G. los. Er und seine Frau hatten im Jahr zuvor eine Rundreise gemacht. Rheinsberg, Neustrelitz, Schwerin, Templin und Müritz. Bis auf die eine Nacht in einem Quartier, das aus einer einstigen Garage in eine Ferienwohnung umgebaut worden war (vermutete Herr G.), kalt und klamm und mit Polstermöbeln, die bereits ein Möbelleben hinter sich hatten, bis auf diesen Umstand sei es eine tolle Reise gewesen.
Zu seiner Vermutung schwieg ich, ich wußte. Ja ich hatte den Geruch dieser nach dem Großen Umzug von 1989/90 so rasch wie D-Mark-süchtig hergerichteten touristischen Bereitstellungsräume in der Nase. Das Kunstledersofa aus der Guten Stube. Die Stehlampe mit den Hängefransen. Die Gabel und Messer und Löffel mit den Holzgriffen. Die braunen Lagen Kachelimitationen an der Decke. Schnell war aus einem Schuppen, einer Garage, einem Grillhäuschen ein Ferienhaus gemacht, aber hallo.
Viel Spaß und gutes Wetter wünschte mir Herr G. Nur daß ich nicht im ADAC sei, stimmte ihn bedenklich. Die Heimat ist die Heimat, aber sie ist noch heimatlicher, wenn der Gelbe Engel einen schützt.
Am Abend fuhr ich ins Dorf M. ein. Wo ich eine Finnhütte gemietet hatte, das einstige Wochenendhäuschen eines Mannes, der auch nicht mehr von seiner Hände Arbeit leben konnte. War gemütlich und ließ sich schnell erwärmen. Auf der Koppel jenseits des Weges, der am Grundstück vorbei in den nahen Wald führt, grasten Schafe. Neulich erst hatte ich gelesen, daß die sehr wohl schlau seien und sich viele Gesichter über längere Zeit merken können.
Und da, an diesem Abend, überfiel mich die Sehnsucht nach dem Herrn G., nach Frankfurt am Main, und ich beschloß, Mitglied des ADAC zu werden.