Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

Hallesche Nächte

von Frank Hanisch

Ein Vollmond thront über den kahlen Erlen und Weiden, die die Nähe der Saale im Tal nur ahnen lassen. Wolkenschleier ziehen am Mond und seinem hellen Hof vorüber und verbreiten eine Atmosphäre wie auf Gemälden von Caspar David Friedrich. Zwei Männer im Labor in Betrachtung des Mondes. Wir gehen in das hell ausgeleuchtete Hauptlabor zurück. Die anderen Räume sind schon verschlossen. Da unsere Versuchsreihen fehlgeschlagen sind, haben wir uns entschieden, sie noch heute zu wiederholen. Dabei geben wir uns so meditativen und femininen, geradezu mütterlich anmutenden Tätigkeiten hin wie Waschen, Reinigen, Füttern, Schneiden und Auftrennen – von Gewebsschnitten, Erbinformationen und Bakterienkulturen versteht sich.
Am Haupteingang unseres Hochsicherheitslabors klingelt es. Der Pizza-Service bringt uns Baguettes und eine Flasche Rotwein vorbei. »Looks good. Smells great.« Zeit für eine Pause und für meinen ukrainischen Tutor Andrej, aus seinem Leben zu erzählen.
»Nach meiner Dissertation in Halle und einem dreijährigen Aufenthalt als Post-Doc in Boston ging ich nach Kiew zurück. Nach einem halben Jahr wurde ich aber unruhig und versuchte wieder wegzukommen. Eigentlich wollte ich nach Deutschland zurückkehren. Zu dieser Zeit führte jedoch kein Weg zurück. Da erreichte mich eine E-Mail vom Cal Tech in Kalifornien. Die hatten da ein halbes Jahr vergeblich versucht, eine transgene Maus zu entwickeln. Ich ging also hin und machte ihnen diese Maus innerhalb von drei Wochen.« Male mir ein Schaf. Mache mir eine Maus. Wie einfach das Leben doch ist …
Die Interpretation von Meßdaten in den Biowissenschaften ist ein weites Feld. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung verwischen leicht. Wie auf einem chinesischen Tuscheaquarell. Oder einem koreanischen. Der König des Klonens, der Südkoreaner Woo Suk Hwang, hat ja auch neun von elf Stammzellinien erfunden, oder gar alle elf? Es stürzen schließlich keine Häuser ein, wenn ein paar Stammzellinien verpfuscht werden. »Wenig später lud mich die Professorin vom Labor zu einen Cognac ein. In ihre Villa, riesig wie dort üblich. Die Experimente sollten in einem Labor in Boston weitergeführt werden. Langwierige Sache. Klar freute ich mich auf Boston! Eine Woche später saß ich im Flugzeug. Zu solchen Sachen fehlt es nicht an Geld, darin sind sie schnell, die Amis.
Nach zwei Wochen bekomme ich einen weitergeleiteten Anruf aus Halle. ›Wir haben eine Stelle für dich.‹ ›Wißt Ihr, wo ich mich gerade aufhalte?‹ ›In Kiew natürlich.‹ ›Nein, in Boston.‹ ›Mein Gott, dann vergiß unser Angebot.‹ ›Ach, wartet nur ab.‹ Eine Woche lang bereitete ich mir nach den anstrengenden Tagen im Labor schlaflose Nächte, wog das Für und Wider ab. Dann gestand ich es meiner Chefin am Cal Tech. Sie war zunächst recht verärgert, verstand meine Beweggründe nicht und versuchte mich mit einer Gehaltserhöhung um fünfundzwanzig Prozent zum Bleiben zu überreden. Ich blieb standhaft. Drei Tage später saß ich im Transatlantikflug nach Frankfurt. Im ICE auf der Höhe von Erfurt rief ich meine Freunde in Halle an. ›Hallo, stellt schon mal das Bier kalt.‹ ›Aber wieso? Du bist doch in Los Angeles.‹ ›Nein, in zwei Stunden bin ich in Halle. Ich mache wieder bei euch mit.‹ Es wurde ein feucht-fröhlicher Abend mit viel, viel Alkohol bei Freunden, die am Rande von Halle wohnen. Nachts wachte ich auf und hatte einen Black out. Ich wußte nicht, wo ich mich befand. Kein Licht, kein Geräusch. Ich glaubte, ich sei gestorben. Vier Monate lang mußte ich mich an neue Umgebungen gewöhnen: Kiew, LA, Boston, LA, Frankfurt, Halle. Meine Nervenzellen waren so überreizt, daß sich etwas verschoben hatte. Dann noch der Alkohol und die Stille. Also war ich tot? Nein, auf dem Flug nach Europa befand ich mich nicht mehr. Aber wo dann? Ich bemerkte einen Geruch aus Desinfektionsmittel und Auslegware und sofort wußte ich Bescheid, hatte ich die absolute Gewißheit: Ich bin wieder zurück in Deutschland.«
In der Zwischenzeit hatte ich mein drittes Glas Rotwein getrunken, da meldete sich der Mediziner in mir: »Jeez, das ist also der Tod: Er erinnert an deutschen Teppichfußboden und an Desinfektionsmittel.«