Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

GULag als Event

von Wladimir Wolynski, Moskau

Unsere Neuen Russen verbringen ihren Urlaub, so sie zu den Oligarchen gehören, auf einer eigenen Hochseeyacht oder in einem angemieteten Schloß. Bemittelte, aber nicht ganz so betuchte Russen fliegen ans Mittelmeer. Die jeunesse dorée ist einfallsreicher: Die vergnügungssüchtigen jungen Nichtstuer verbringen ihre Tage (und natürlich Nächte) immer öfter jenseits des Polarkreises: in Workuta. Hier dauert der Winter – bei Frösten bis zu minus vierzig Grad Celsius – neun Monate. Die Mitternachtssonne steht zwei Monate am Himmel, im Juni und im Juli.
Die Stadt und der Bergbau in diesem Industrierevier sind größtenteils das Werk von Häftlingen. Sie vegetierten hier für viele Jahre in Baracken hinter Stacheldraht, malochten Untertage oder auf den Verladeplätzen. An die 200000 Häftlinge sind hier bei Grubenunglücken zu Tode gekommen, oder ihr Leben erlosch infolge ständigen Mangels. Andere wurden erschossen, zum Beispiel während des Häftlingsaufstands 1953.
Diese Zeit ist vorbei, kehrt aber auf fatale Weise und immer häufiger zurück. Nicht nur in Workuta. Wie auch andere Unternehmer verfolgt Igor Spektor eine Geschäftsidee, die sich bereits jetzt als profitabel erweist, aber noch mehr Geld bringen soll – in Workuta und auch anderenorts. Zum Beispiel im Klub Zone in Moskau. Zone imitiert für zahlungskräftige Touristen einen Ausschnitt des Lebens im GULag. Der nachgebaute Lagerkomplex (russisch: die Zone) wird von hohen grün gestrichenen, stacheldrahtbewehrten Bretterzäunen umgeben; auch Wachtürme fehlen nicht. Die sind selbstverständlich besetzt und mit Suchscheinwerfern ausgerüstet. Am Lagereingang stehen Uniformierte, die die Besucher filzen. Angeleinte Wachhunde verbellen Ankommende.
Der Zugang zu jeder Baracke erfolgt über eine Art Laufgang, rechts, links und nach oben von Stacheldraht umspannt. Jede Baracke ist von den anderen durch Stacheldrahtverhaue getrennt. Die Holzbaracken sind einfachsten Zuschnitts, als Nachtlager dienen Holzpritschen. Anstatt der gewohnten Kaviarhäppchen oder geräucherten Störs als sakuska wird in Blechschüsseln Kohlrüben- oder Krautsuppe ausgereicht, dazu Schwarzbrot. Die Gäste, so heißt es, gruseln sich angenehm. Im Moskauer Klub wird die Nacht hindurch getanzt, getrunken, gelacht, gelebt.
Die Geschäftsidee ist noch nicht »erschöpft«. Denn derartige »Zonen« sollen auch außerhalb von Städten, etwa in der Tundra, angelegt und für sie erweiterte Angebote entwickelt werden. Künftig soll es möglich sein, sich aus dem Lager »beurlauben« zu lassen, um einen gebuchten Jagdausflug zu absolvieren, an einem der sibirischen Ströme zu fischen oder auf Survivaltouren Flüchtling zu »spielen« und sich durchzuschlagen.