Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

Große Freiheit

von Martin Nicklaus

Die Freiheit nehme ich mir« klingt es fröhlich aus dem Werbefernsehen, und vielleicht hatte Robert Steinhäuser die Melodien dazu auf den Lippen, als er sechzehn Menschen und dann sich selbst das Leben nahm.
Schon lange gärt in der analytischen Philosophie, ausgehend von Ludwig Wittgenstein, der Verdacht, Freiheit gehöre zu den hartnäckigen Illusionen des Menschen. Bereits unser Menschsein an sich begrenzt uns. Stammesgeschichtlich sind wir Rudeltiere und von jeher Teil einer Gemeinschaft, deren Regeln unterworfen. Wir müssen atmen, essen, trinken oder jämmerlich zugrundegehen, sind Krankheiten, Sorgen, Nöten, Ärger, Bedürfnissen und Interessen ausgesetzt, unterliegen Tradition, Zeitgeist, Klima, Finanzmärkten sowie Ethik, sind gebunden an Familie, Beruf und Freundeskreis.
Wenn heute der Bundeskanzler, diesmal gespielt von einer Frau, mehr Freiheit wagen möchte, dann darf uns ruhig Himmelangst werden. Denn entweder ist hier jemand schizophren oder ein blanker Demagoge. Entweder folgt er den Einflüsterungen Gottes, ähnlich dem indiskutablen George Bush jun., oder er beansprucht gleich für sich selbst gottähnliche Freiheitsgrade. Göttlich scheint wohl auch den Rufern der Freiheit die neoliberale Globalisierung, denn ausgerechnet von ihr sehen sie sich durch Sachzwänge gebunden.
Deshalb begrüßen den Freiheitsappell vor allem die Skrupel- und Rücksichtslosen. Die Gierigen und Dreisten sehen darin eine Aufforderung, sich von dem Kuchen, an dem sie ohnehin schon überproportional partizipieren, ein noch größeres Stück zu nehmen. Schlechterdings postuliert Angela Merkel unter dem Decknamen Freiheit das Recht des Stärkeren, die Absage an Allgemeinwohl und Gerechtigkeit zugunsten der Bestrebungen einzelner.
Grundsätzlich endet alle Freiheit an der des Nachbarn. Das findet seinen bildhaften Ausdruck im Gartenzaun, Einfriedung geheißen. Einschränkungen und Abgrenzungen haben etwas mit Frieden zu tun. Fragen wir die Israelis. Was aber eingefriedet werden muß, kann genau darum keine Freiheit mehr gewähren. Um dieses Problem kreisen seit Jahrhunderten die Gedanken von Philosophen. John Stuart Mill formulierte in Über die Freiheit, »… daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfähigkeit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist (, ist): sich selbst zu schützen«. Denn »der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«, wie wiederum Thomas Hobbes ausrief. Er entwickelte deshalb sein Modell vom Staat als Überperson, dem Leviathan, einem »sterblichen Gott«, mit unbeschränkten Machtbefugnissen, der alle Bürger unter seine Gesetze zwingt, von denen er selbst frei bleibt.
Ungeachtet dessen kommt Freiheit immer mit allergrößtem ideologischem Pathos daher. Oder gleich mit Panzern und Bombern. Dann wird Freiheit gebracht. Da knallen die Freiheitsbringer den verdutzten Einheimischen die Freiheit, beispielsweise unter dem Arbeitstitel Iraqi Freedom, vor den Latz, erwarten Dankbarkeit und plündern das Land aus. Das allerdings hat Tradition. Bereits Narmer, der bedeutendste prädynastische König Ägyptens, zog vor 5000 Jahren los, die unterägyptischen Nachbarn ins Reich heimzuholen. Doch blieb selbst solch Heroe, der scheinbar tat und ließ, was ihm gefiel, unfrei. Am Ende seiner Tage wurde er abgeholt von einem mächtigeren, dem Großen Gleichmacher. Aber vielleicht beginnt die große Freiheit erst nach dem Tot. Nach Platon würde sich wenigstens die unsterbliche Seele, befreit vom Leib mit seinen Bedürfnisse und Begierden, endlich voll entfalten.
Seltsamerweise haben die Hamburger ausgerechnet eine Straße Große Freiheit benannt, die wie keine zweite für die Begierden des Leibes steht. Hier bedeutet Freiheit »mal ordentlich die Sau rauslassen«. Begegnete uns Freiheit bisher immer als Gewaltakt, gesellt sich nun die Komponente Sex hinzu. Auf diese Urinstinkte reduziert sich also der aufgeblasene Popanz, der suggeriert, man könne machen, was man wolle. Schopenhauer würde allerdings präzisieren: »Der Mensch kann zwar machen, was er will, aber nicht wollen, was er will.«
Und dennoch, der Mensch verfügt prinzipiell immer, und darin wurzelt Verantwortung und jede Rechtsprechung, über Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsspielraum, quasi innerhalb seines Gartens, seiner physischen, psychischen, emotionalen und intellektuellen Veranlagungen. Ihm eröffnen sich Welten, sobald er lernt, sich seines Verstandes ohne Hilfe Dritter zu bedienen und damit den Grundstein für den Ausgang – so Immanuel Kant – aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu legen. Darin ruht seine Freiheit. Eine Miniatur sozusagen.
Um ihm diese zu nehmen, gibt es Wahlkämpfe und Regierungserklärungen. Jeden Hans soll bei der Wahl seiner Wurst das Gefühl einer tief empfundenen Freiheit durchfahren; er soll den Sinn seiner Existenz und allen Daseins überhaupt, ja des ganzen Lebens und die Harmonie des Universums spüren. Doch wer sich dabei wirklich frei wähnt, beweist oft nur einen Mangel an Verstand und Phantasie.