Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

Die Brosamen sind verteilt

von Thomas Kuczynski

Am Jahresende 2005 war die Auszahlung der vor allem zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeitskräfte in der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« versammelten Beträge faktisch abgeschlossen. Statt die »Wohltäter« zu preisen, wie dies heute gang und gäbe ist (siehe etwa »Das Parlament« vom 5. Dezember 2005), erinnern wir an die Hintergründe, die die deutsche Wirtschaft zu diesem Schritt veranlaßte. Unser Autor Thomas Kuczynski hat sie in seinem Buch »Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte« (erschienen im Verbrecher Verlag Berlin 2004) analysiert. Zu einem der Hintergründe schrieb er:

Die große Masse der Firmeneigentümer in Deutschland, einschließlich der Aktionäre, war weder an den Verhandlungen beteiligt noch trat sie der Stiftungsinitiative bei. Sie war nicht etwa uninteressiert gewesen, ganz im Gegenteil – sie blockte ab und zahlte nichts. Es war geradezu grotesk, wie die damaligen Chefs von Deutscher Bank (Rolf-E. Breuer) und DaimlerChrysler (Manfred Gentz) namens der Stiftungsinitiative bei ihren »Kollegen« darum bettelten, sie möchten doch durch Einzahlung von einem Tausendstel ihres Jahresumsatzes der Stiftung beitreten, um auf diese Weise »das Ansehen Deutschlands und der deutschen Wirtschaft in der Welt zu stärken und zugleich einen dauerhaften Rechtsfrieden zu schaffen.« In die Finanzverhältnisse der »Arbeitnehmer« übersetzt, wurde also darum gebeten, wahlweise auf ein Glas Bier oder eine Tasse Kaffee im Monat zu verzichten, und das über ein ganzes Jahr – eine unerhörte Leistung, die da abverlangt worden war.
Auch in anderer Hinsicht war die Summe lächerlich gering. Die von der deutschen Privatwirtschaft faktisch (also unter Berücksichtigung der Steuerentlastung) gezahlten 2,5 Milliarden DM entsprachen ungefähr der Summe, die Schweizer Banken im nachhinein für ihren Handel mit Nazi-Raubgold zahlen mußten. Auch wer kein Freund der im Schweizer Volksmund sogenannten Gnome von Zürich ist, erkennt, daß hier mit zweierlei Maß gemessen worden ist: Nicht die Schweiz hatte mehr als halb Europa ausgeraubt, sondern das zehn Mal so große Deutschland, aber allein ihre Banken zahlen dasselbe wie die gesamte deutsche Privatwirtschaft. Die Großmacht Deutschland hatte sich in ganz anderer Weise gegen berechtigte Ansprüche stellen und durchsetzen können als die Schweiz.
Selbst dieser geringfügige Betrag war der deutschen Privatwirtschaft zunächst noch zu hoch, weshalb der Chef der Stiftungsinitiative, Manfred Gentz, zwischenzeitlich verlangte, daß die von deutschen Staatsunternehmen gezahlten Beträge nicht dem Anteil des Staates, sondern dem der Wirtschaft zugerechnet werden sollten. Als Privatunternehmer wollte man so billig wie möglich davonkommen.
Im übrigen ist natürlich – damals so wie heute – festzustellen: Wenn an der Jahreswende 1999/2000 im Kampf um die Übernahme eines (!) Konzerns Beträge von schließlich über vierhundert Milliarden Mark gezahlt worden sind, dann kann gar keine Rede davon sein, daß nicht genügend Geld vorhanden war, um 180 bzw. 228 Milliarden an Entschädigungen zu zahlen. Eine solche gemeinsame (!) Zahlung hätte die Firmen, wie am Beispiel DaimlerChrysler gesehen, keineswegs in den Ruin getrieben.
Gewiß, die vierhundert Milliarden für Mannesmann wurden für ein hochprofitables Unternehmen gezahlt, an dem einige Millionen Besitzerinnen und Besitzer von Mobiltelefonen hingen. Die Entschädigungen wären an einige Millionen ehemaliger Zwangsarbeitskräfte gegangen, die zwar während des Krieges sehr profitabel waren, nicht mehr jedoch zu Zeiten der Verhandlungen. Das aber war der einzige Unterschied, und insofern hätten die Erben beziehungsweise Rechtsnachfolger der Zwangsarbeitgeber nicht behaupten dürfen, sie könnten nicht zahlen, sondern ihre Behauptung hätte wahrheitsgemäß lauten müssen: Wir wollen nicht zahlen. Alles andere war Heuchelei.
Die Haushistorikerin der Stiftungsinitiative, Susanne-Sophia Spiliotis, berichtete in ihrer Schrift Verantwortung und Rechtsfrieden (Frankfurt/ Main 2003), daß die siebzehn Gründungsunternehmen über sechzig Prozent des von der Wirtschaft zu zahlenden Betrags aufbrachten und die etwa 6500 bis Ende 2001 beigetretenen Firmen knapp vierzig Prozent; die zigtausend nicht beigetretenen gaben selbstredend nichts. Auf 5,1 Milliarden umgerechnet, zahlte also jedes Gründungsunternehmen im Durchschnitt 180 Millionen und jedes später beigetretene rund 300000 DM. Spiliotis machte auf einen weiteren Aspekt der Rechnung aufmerksam: Der Anteil von Industrie und Dienstleistungen am Gesamtaufkommen der Stiftungsinitiative betrug 67 Prozent, der der Finanzwirtschaft 32 Prozent. Diese Relation von faktisch 2:1 entsprach jedoch in keiner Weise jener in der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, denn die lag bei 17:1. Nicht zu Unrecht sah die Historikerin hierin »ein Indiz für die ökonomische Bedeutung der Kredit- und Assekuranzunternehmen […] und zugleich für deren Reaktion auf das Bedrohungspotential, dem sie in den USA vielfältiger ausgesetzt waren als die Industrie«.
Noch erstaunlicher wird diese Relation unter Berücksichtigung der historischen Tatsache, daß Banken und Versicherungen zwar unmittelbar durch »Arisierungen« und nicht ausgezahlte Lebensversicherungen profitierten, nicht aber durch Zwangsarbeit. Da in ihren Kontoren kaum Zwangsarbeitskräfte »eingesetzt« waren, profitierten sie allein über ihre Geschäftsbeziehungen zu den Zwangsarbeitgebern. Dieser Aspekt blieb bei Spiliotis ungenannt; die ehemaligen Zwangsarbeitskräfte spielen in ihrer Darstellung, von Ein- und Ausgangsfloskeln abgesehen, sowieso keine Rolle. Das wiederum ist insofern völlig korrekt, als bei ihr vor allem das Pokerspiel selbst dargestellt wird, die juristischen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den Verhandlungspartnern, und da waren Vertreter der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte allenfalls am Katzentisch zugelassen.
In der Tat befanden sich die Gründungsmitglieder der Stiftungsinitiative in einer selbstverschuldeten Zwickmühle. Mußten sie selber streng darauf achten, daß der Beitritt zur Stiftung auf freiwilliger Basis erfolgte – ein irgendwie ausgeübter Zwang hätte als Eingeständnis einer »Kollektivschuld« der deutschen Wirtschaft ausgelegt werden können –, so sahen die meisten der anderen Unternehmen gar keinen Anlaß, der Stiftung beizutreten.
Zwar hatten auch sie beziehungsweise ihre Rechtsvorgänger während des Krieges von den Zwangsarbeitskräften profitiert; aber ihnen stand keinerlei »Bedrohungspotential aus den USA« gegenüber, weil sie bloß auf dem deutschen Markt agierten. Gerade die vielen tausend kleinen Firmen, die Kommunalbetriebe und so weiter, die während des Krieges Hunderttausende Zwangsarbeitskräfte »eingesetzt« hatten, konnten in aller Seelenruhe und mit unverdienter Häme den »großen Brüdern« zuschauen, wie die sich im Interesse ihres global business um ihre Rechtssicherheit sorgen mußten.
Für diese Rechtssicherheit, und nur für sie, waren die global players aus der Neu-BRD und ihre Regierung bereit zu zahlen, notfalls auch an ehemalige Zwangsarbeitskräfte. Es darf nicht übersehen werden, daß in der freien unsozialen Marktwirtschaft auch die juristische Generalabsolution für das Kriegsverbrechen Zwangsarbeit gekauft werden darf, kann und muß. Daran hat sich seit den Zeiten des Frühkapitalismus nichts geändert: »Und wenn die Münz’ im Kasten klingt / Die Seele in den Himmel springt«, versprach einst der Ablaßhändler Johann Tetzel. Eine »Besserung durch Zahlung« hatte Tetzel von seinen »Kunden« nicht erwartet.