Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

Der Rattenfänger von Hameln

von Uri Avnery, Tel Aviv

Vor etwa 721 Jahren litt die Stadt Hameln unter einer Rattenplage. Ein Bürger mit Namen Bünting bot sich an, für eine mit einander vereinbarte Bezahlung die Stadt von der Plage zu befreien. Als er auf seiner Pfeifenflöte spielte, kamen die verzauberten Ratten aus ihren Löchern heraus, folgten ihm in den Fluß und ertranken. Als der Pfeifer den Stadtvätern seine Rechnung vorlegte, wollten sie ihm nur die Hälfte zahlen.
Der Pfeifer dachte sich eine schreckliche Rache aus. Er blies wieder auf seinem Instrument, und dieses Mal kamen alle Kinder der Stadt heraus und folgten ihm. Er führte sie zu einem Berg – und keines von ihnen wurde je wieder gesehen.
Ariel Sharon ist eine moderne Version dieses Pfeifers. Nachdem die Likud-Väter eine schreckliche Wahlschlappe erlitten hatten, riefen sie ihn. Und er blies tatsächlich seine Pfeife, und die Wähler folgten ihm. Bei zwei Wahlkampagnen führte er den Likud von neunzehn zu 38 Knessetsitzen. (Ihm schloß sich dann Nathan Sharansky mit noch drei Sitzen an.)
Zahlten die Likud-Väter ihm den Lohn? Nichts davon! Sie machten ihm das Leben zur Hölle, behinderten ihn an jeder Ecke, und am Ende wandte sich die Likud-Knesset-Fraktion selbst gegen ihren eigenen Ministerpräsidenten.
Nun brach der Tag der Rache an. Sharon bläst wieder seine Zauberflöte, und die Likud-Wähler folgen ihm – von einigen Likud-Vätern begleitet – in hellen Scharen. Der Likud mag, von wenigen betrauert, ruhig den Fluß hinuntertreiben. Nicht nur die Kinder der Rechten folgen dem Rattenfänger, sondern auch viele Kinder der Linken. Er ist dabei, sie zum Berg zu führen, der sie wie die Kinder von Hameln verschlingen wird.
Gestern rief mir in Tel Aviv auf der Straße jemand hinterher: »He, wann schließen Sie sich Sharon an?« »Warum sollte ich das tun?« fragte ich zurück. »Weil er Ihren Plan erfüllen wird!« antwortete er triumphierend.
Diese Illusion gewinnt Boden. Viele Linke, die in den vergangenen Jahren in einer warmen und bequemen Verzweiflung schwelgten, die sie von jeder Pflicht befreite, aufzustehen und zu kämpfen, haben jetzt eine noch angenehmere Lösung gefunden: Sharon, der Mann des rechten Flügels, wird den Traum des linken Flügels verwirklichen. Man muß nur für Sharon stimmen – dann wird der lang ersehnte Frieden kommen.
Haaretz veröffentlichte den Artikel eines Linken, der erklärte, warum er Sharon wählen wolle: Sharon sei wie de Gaulle. De Gaulle habe gegen sein Versprechen Frankreich aus Algerien herausgeholt und Frieden mit den Rebellen gemacht. Um der guten Sache willen log und betrog er. Auch Sharon lügt und betrügt. Also: Sharon wird Israel aus den palästinensischen Gebieten herausholen und Frieden machen. Das sei doch logisch.
Wenn jemand nach einem Beweis sucht, so konnte er ihn in einer Erklärung von Kalman Gayer, einem Amerikaner, finden, der Sharon bei den Meinungsumfragen berät. Er »enthüllte« in Newsweek Sharons »wirklichen« Plan: den Palästinensern neunzig Prozent der Westbank zurückzugeben und über Jerusalem einen Kompromiß zu finden.
Der Likud gab einen herzzerreißenden Schrei von sich, die Linke war bestürzt. Wie bitte? Wirklich? Sharon ist bereit, mehr »aufzugeben« als Ehud Barak? Aber jemand, der mit der besonderen Redeweise Sharons bekannt ist, kann den Code leicht entschlüsseln: Nach Gayer selbst glaubt Sharon nicht, daß dies zu seinen Lebzeiten noch geschehen werde, weil es keinen palästinensischen Partner für Frieden gebe. Deshalb sei er bereit, vorläufig nur die Hälfte der Westbank zurückzugeben.
So kommen wir – wie durch ein Wunder – wieder zurück zu Sharons ursprünglicher Formel: einseitig 58 Prozent der Westbank zu annektieren, keinerlei Friedensverhandlungen mit den Palästinensern zu führen und an ganz Jerusalem festzuhalten.
Inzwischen verteilt Sharon hunderte, vielleicht tausende Baugenehmigungen in den Siedlungen, läßt die Mauer weiterbauen, läßt palästinensische Häuser in Jerusalem zerstören und die Blockade in Gaza aufrechterhalten. Seine fortgesetzte stille Bemühung, die Position von Mahmoud Abbas zu unterminieren, trägt schon Früchte. Doch wer kümmert sich darum, wenn die berauschenden Flötentöne die Sinne und Gehirne so vieler friedensliebender Linker betäuben?
Wenn Sharon die Wahlen gewinnt und wieder Ministerpräsident wird, was wird er dann tun? Die einfache Wahrheit heißt: Keiner weiß es; ganz sicher nicht der Haufen der »Getreuen«, der »Taktiker«, »der Ratgeber« und der anderen Anhänger. Nur Sharon weiß es – und vielleicht nicht einmal er. Die wirkliche Gefahr liegt im Wesen von Sharons eigener Partei. Sie hat keine Ideologie außer Sharon. Kein Programm außer Sharon. Keinen Plan außer Sharon.
Sharon ist niemals ein Demokrat gewesen. Von Anfang an hatte er für Parteien und Politiker eine tiefe Verachtung. Von früher Jugend an war er davon überzeugt, daß er der Führer des Volkes und des Staates werden müsse, da er – und nur er allein – in der Lage sei, sie vor dem Verderben zu retten. Er sah sich als frei Handelnder, von allen Fesseln frei, und fähig, seine historische Mission zu erfüllen: die Grenzen des Staates mit einem möglichst großen Gebiet festzulegen.
Er versteckt seine Absicht nicht, das politische System zu verändern und ein Präsidialregime zu errichten. Wenn es ihm gelingt, einen genügend großen Sieg zu erringen, wird er mit der Hilfe von ein paar bestochenen Gesetzesmachern in der Lage sein, die Gesetze des Landes zu verändern und selbst zu einem allmächtigen Präsidenten zu werden.
Die Politiker werden von der Öffentlichkeit verachtet; die großen Parteien rufen Ekel hervor; politische Korruption ist sprichwörtlich geworden. In solch einer Krise verlangen die Menschen einen starken Führer. Sharon ähnelt nicht den großen Diktatoren der Ära zwischen den beiden Weltkriegen, sondern viel mehr dem Argentinier Juan Peron – einem General der Rechten in der Verkleidung eines Linken, ein ungebundener Autokrat, der allen demokratischen Überbleibseln ein Ende setzte.
Für den, der den Mann kennt, ist nur eines sicher: Er wird niemals sein historisches Ziel aufgeben: so viel Land wie möglich mit so wenig Arabern wie möglich zu annektieren. Er hat den Abzugsplan mit äußerster Kraft durchgeführt – nicht um Frieden zu bringen, sondern um dieses Prinzip zu realisieren. Alles weitere ist »pragmatisch« – und man sollte nicht vergessen, daß dieses Wort seine Wurzeln im griechischen »pragma« hat, was »Tat« bedeutet.
Nicht das Reden ist wichtig, sondern die Aktionen. Wenn man sich mit Sharon befaßt, sollte man nicht auf seine Worte achten, sondern seine Hände genau beobachten. Und was seine Hände tun, mag völlig anders sein, als das, was sich unschuldige Linke vorstellen, jene, die nun mit geschlossenen Augen hinter dem Mann mit der Zauberflöte herlaufen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, gekürzt