Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Zahlen bitten zum Tanz

von Heinz-Dieter Haustein

Bitte Zahlen ist eine Zahlengeschichte von Günter Kröber im Eulenspiegel Verlag. Das ist so weit vom Verlagslogo nicht entfernt, hat sich doch Till Eulenspiegel beim Diskurs über das Messen mit den Professoren der Universität Prag und beim Zählen der Mönche in Marienthal wacker geschlagen. Kröbers Büchlein ist nicht mehr und nicht weniger als ein Theaterstück, dessen Akteure die prominentesten Akteure des Zahlenreichs sind. Das geschieht auf spannende, unterhaltsame und gleichwohl anspruchsvolle Weise. Die Zahlenprominenz wird lebendig gemacht über ihren kulturgeschichtlichen Werdegang und die Kapriolen ihres Erkennens und Verkennens. Je prominenter die Zahlen und je verwickelter ihr Zusammenhang wird, desto mehr Poesie, Imagination, Entdeckungshoffnung und vielleicht auch Verrücktheit kommt ins Spiel. Anders kann man es wohl nicht erklären, daß die Jagd nach der genauesten Kreiszahl auch nach der zigmillionsten Dezimalstelle nicht aufhört.
Im Vorwort meint Kröber, daß Zahlen ein Sein für sich haben, das rein geistiger Natur ist. Das unterschreiben alle, die von Zahlen fasziniert, verzückt oder mystisch verklärt sind. Zahlen lassen glauben, weil sie abstrakt und ordnungsstiftend sind, zugleich aber geheimnisvoll und verwirrend sein können. Sie sind nicht nur Ausdruck von Ideen, der Autor zeigt selbst an vielen Beispielen, daß sie reale Strukturen abbilden, von der Blattstellung und Nautilusmuschel bis zu den Planetenbahnen. Wenn jene, die das Wirken und Weben der Zahlen jungen Menschen erklären sollen, ihnen »nur eine Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffren, deren lebendige Bedeutung niemand mehr kennt und die man mit Schulstolz nachplappert« (Heinrich Heine 1843!) vermitteln, dann kommt das zustande, was wir heute bei uns beklagen müssen. Zahlen sind eben keine toten Spielsymbole, sie können Geschichten erzählen, phantastische Bilder aufbauen und zugleich praktische Lösungen vorhersagen, die aufwendige Umwege ersparen. Kröber nimmt sich die Ursprungszahlen Null und Eins, die Prominenten Kreiszahl, Basis der natürlichen Logarithmen und Zahl des Goldenen Schnitts ebenso wie die »Skandalwurzeln« von 2 und -1 vor. Er zeigt ihre Herkunft, ihr Eigenleben und ihre verblüffenden Wirkungen.
Eine Knobelfrage für Schüler wäre zum Beispiel, warum und wie die Römer in ihrem Zahlensystem ohne Null auskamen. Die Null ist doch so etwas für die Zahlen wie der Schatten für den Menschen. Ein Mensch ohne Schatten wäre eine unheimliche Erfahrung. Oder man kann darüber staunen, daß die Null als der vor fünf Jahrhunderten erstmalig verwendete Fluchtpunkt der Zeichnungsperspektive quasi als Stellvertreter für das Unendliche dient, in dem die Parallelen sich schneiden. So wie die Kreiszahl Pi (perimetron) als prominente Zahl des Runden, ist Phi wie Phidias die prominente Zahl des Eckigen, der sich schneidenden Geraden. Sie findet sich im Pentagramma oder Fünfstern, was dem Teufel an Fausts Schwelle Pein bereitete und früher schon den Pythagoräern. Der Pythagoräer Hippasos hatte an diesem heiligen Zeichen ihres Bundes ein Verhältnis entdeckt, das nicht mit ganzen und gebrochenen Zahlen erfaßt werden konnte. Die nichtperiodischen Dezimalbrüche, wie wir sie heute bezeichnen, gehören nicht zu den »gebrochenen Zahlen« der Mathematik. Auf dem so einleuchtenden Zahlenstrahl der Pythagoräer mit den natürlichen Zahlen und ihren Verhältnissen taten sich auf einmal Abgründe auf. Hippasos mußte es büßen, er ertrank vielleicht nicht ohne Nachhilfe seiner Bundesbrüder im Meer.
Kröber nutzt auch die Kunst- und Architekturgeschichte, um die Anwendung des Goldenen Schnitts mit Phi und der damit verbundenen Fibonaccizahlen zu zeigen. Da werden die Karolingische Königshalle in Lorsch, der Dom von Florenz und das Alte Rathaus von Leipzig erwähnt, aber auch Beispiele aus Musik und Botanik. Manche Nuß verbirgt sich im Buch Kröbers. Dazu gehört, daß es der imaginären Zahl i eines Tages unwohl wurde, als sie sich selber die Wurzel zog in ihrer positiven und negativen Variante und als Wurzel aus 2 wieder aufwachte. Wie geht das wohl? Im großen Schlußball der prominenten Zahlen wird gar die berühmte algebraische Gleichung Eulers mit der geballten Ladung der Promis i, e und p von Kröber ergänzt durch die Zahl f. Das ist noch plausibel, aber schon Eulers Relation ist eine Knobelaufgabe erster Güte für Otto Normalrechner. Übrigens kann Mathe auch lebensgefährlich sein. Vor sechzehn Jahrhunderten wurde die Mathematikerin Hypatia von christlichen Fundamentalisten ermordet. Aus Kröbers Buch können junge Adepten der Mathematik erfahren, daß der große Evariste Galois mit 21 Jahren bei einem von der Geheimpolizei provozierten Duell 1832 zu Tode kam. Das zeigt, daß selbst Mathematiker nicht jenseits von Gut und Böse sind, wenn sie sich neben der Wissenschaft auch für die Demokratie engagieren. Galois nahm auf republikanischer Seite an der Revolution von 1830 teil und kam für mehrere Monate ins Gefängnis. Nicht jeder ist eben in der Lage und gesonnen, sich mit der Obrigkeit zu arrangieren und zugleich auf schmalem Grad seinen Protest zu artikulieren, wie es beispielsweise Goya verstanden hat.
Kröbers Buch ist ein Schmankerl und mehr als das. Die Fähigkeit zum Zählen, Messen und Rechnen ist ein Kulturzeiger der Menschheitsgeschichte. So paradox es klingt, der Taschenrechner ist heute von einem Hilfsmittel zur Denkblockierung des elementaren Zählens geworden, das in der Praxis gebraucht wird. Darüber wird bei der Einstellung junger Lehrlinge geklagt. Ganz zu schweigen von den höheren Stufen der mathematischen Fähigkeiten, die nach allgemeiner Einschätzung in der Schule enorm nachgelassen haben. Andererseits gibt es nicht wenige Enthusiasten des Zahlendenkens, die man veranlassen sollte, ihre Erfahrungen jungen Menschen mitzuteilen. Kröber ist es gelungen, auf unterhaltsame Weise einen Bogen über die tonangebenden Eckpunkte des Zahlenreichs zu schlagen, die Neugier zu befriedigen und zugleich anzustacheln. Es ist eine Melange aus Mathematik, Kulturgeschichte und Philosophie, die überhaupt nicht langweilig ist.

Günter Kröber: Bitte Zahlen! Unterhaltsame Mathematik. Illustriert von Hans-Eberhard Ernst, Eulenspiegel Verlag Berlin, 144 Seiten, 9,90 Euro