Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Schule der Demokratie

von Glyn Hughes, Nicosia

Wer sich mit Brecht auskennt, weiß, daß er nach seiner Rückkehr aus dem Exil als erste deutschsprachige Inszenierung Sophokles’ Antigone (in der Übersetzung von Hölderlin) mit Helene Weigel in der Hauptrolle am Stadttheater Chur in der Schweiz inszenierte. Das berühmte Buch darüber, Antigonemodell 1948, schon ein Jahr später im Westsektor Berlins erschienen, begründete die Tradition der Arbeitsdokumentation. Für Brechts Kampf gegen abstrakte Bebilderung oder agitatorischen Naturalismus, der damals im Shdanowschen Dogma daherkam, schien ihm der antike Stoff und sein Gebrauchswert für die nachnazistische Zeit von geeigneterer Schlagkraft als seine eigenen Werke, deren episch-dialektischer Charakter sich ohnehin dem verordneten sozialistischen Realismus widersetzte.
Das Wiederlesen der alten Texte wurde fortan ein typisch Brechtsches Vorgehen bei der Herausbildung der neuen Dramaturgie und Regie, wie sie mit den Aufführungen des frühen Berliner Ensembles, der Rezeption Brechts durch Strehler, Brook und Stein und vor allem durch seine Mitarbeiter (Wekwerth, Weber, Palitzsch, Besson, Hurwicz, Müller) und deren Schüler (Karge, Langhoff, Haus, Lang) hinlänglich bekannt ist. Die Herausarbeitung von Widersprüchen und dialektischen Zusammenhängen wurde fortan ein Stimulus, der von »Brechts Schule« ausging und die Theater und die Universitäten weltweit eroberte.
Heinz-Uwe Haus, Gründungsmitglied des Wekwerthschen Regieinstituts der DDR, der zwischen 1975 und 1985 durch seine Inszenierungen Brechtscher Stücke in Zypern Brechts Arbeitsweise und Philosophie im griechischsprachigen Theater beheimatet hat, war von Anbeginn seiner Tätigkeit auch darauf aus, selber zu den Wurzeln der »Gastkultur« vorzustoßen. So wie er unmißverständlich in einem frühen Interview in Nicosia das Theater Brechts als »Schule der Demokratie« verstanden wissen wollte, so vehement sah er im klassischen Athen eine solche Ausbildungsstätte, die es nur wieder zu besuchen gelte.
Jetzt liegt ein Sammelband des Kyklos-Verlages Nicosia in englischer Sprache vor, der Essays, Notate und Vorträge von Haus zu griechisch-antiken Theatertexten vorstellt, die beschreiben, wie und unter welchen Umständen die alten Stücke in unsere Zeit einzugreifen vermögen und warum sie zu unserer Identität uneingeschränkt gehören. Wie ein roter Faden zieht sich durch Haus’ Argumentation, daß es eine Dimension kulturvergleichender Varianz gibt, die für die Demokratie besonders wichtig ist. In den untersuchten antiken Texten ist die Korrelation zwischen Überlebens- beziehungsweise Selbstartikulationswerten und dem Grad der Demokratisierung auffallend stark. Gehen sie zusammen, weil Selbstartikulationswerte (zu denen zwischenmenschliches Vertrauen, Toleranz und Teilhabe an Entscheidungsprozessen gehören) zu Demokratie führen? Erstaunlich ist, wie sich mit der Brechtschen Terminologie theatrologische und philologische Denkmuster überraschend anders darstellen als gewohnt. Modelle einst wirksamer Interpretationen kommen auf den Prüfstand und geben oft einen unerwarteten Gebrauchswert für veränderte gesellschaftliche Bedingungen frei. Vor allem wird die Polemik um das »Aristotelische«, die Brecht in der Auseinandersetzung um eine mechanistische Abbildauffassung in der Bühnenkunst zu führen hatte, auf ihren politischen Kontext zurückgeführt und geschichtlich eingegrenzt. Haus’ »Beweismaterial« spricht dafür, daß es eher die Kultur ist, die die Demokratie prägt, als anders herum. (Re-)reading ancient greek drama and theatre ist der Auftakt einer Reihe, die sich mit der Entwicklung des Handwerks und der Ästhetik des Theaters befaßt und auch als Lehrmaterial für das Internationale Sommer Institut in Paphos dienen soll, das jungen Theaterschaffenden aus dem Ausland eine Werkstatt für Theorie und Praxis des antiken Theaters ist. Im Geiste Brechts und Aristoteles’ macht der Autor einsichtig, daß Demokratie langfristig nicht einfach durch die Einführung institutioneller Veränderungen oder durch Machenschaften auf Eliteebene erreichbar ist. Ihr Überleben hängt von den Werten und Überzeugungen ihrer Bürger ab.

Heinz-Uwe Haus: (Re-)reading ancient greek drama and theatre, Kyklos-Books Nicosia, 121 Seiten, 12 Zyprische Pfund. Glyn Hughes ist Art Editor der »Cyprus Weekly« in Nicosia.