Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Ruth Berghaus

von Uwe Schwentzig

Wer war Ruth Berghaus? Eine Kommunistin im Benz? Eine Schlagzeile nennt sie Die größte deutsche Revolution im Theater … »Nach der Wende geriet sie ins Fadenkreuz der politischen Tugendwächter (West). Vergessen, verdrängt, daß sie nach sechs Intendantenjahren 1977 vom Berliner Ensemble sich trennte im Zwist; daß sie immer weiter aneckte mit ihren Arbeiten; daß sie 1979 mit dem Tod Paul Dessaus ihren politischen Rückhalt verloren hatte in der DDR«, mahnt Georg-Friedrich Kühn, der (West-)Berliner Musikjournalist.
Ruth Berghaus, 1927 geboren in Dresden, aufgewachsen in Nazideutschland, nach dem Krieg von Gret Palucca ausgebildet zur Tänzerin und Choreographin, ging nach Berlin, um die Theaterkunst Brechts zu lernen. Die Avantgardisten sind von Anfang an ausschlaggebend für Berghaus. In unvergleichlicher Aufbruchstimmung ging es damals um eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft. Erste Choreographien verwirrten die Kulturfunktionäre der SED wegen deren innovativer Kraft. Die Künstlerin geriet so infolge der fatalen Formalismusdebatte ins berufliche Aus. Allein die Ehe mit Paul Dessau vermochte sie auf Dauer zu schützen.
Nun Ruth Berghaus. Ein Porträt, geschrieben von der Schweizer Journalistin und Geigerin Corinne Holtz. Brecht war jemand mit schmutzigen Fingernägeln und fein genähten Jacken. Darüber hinaus erfährt man nichts in dem Buch. Allenfalls Brechts »eklektische« Marx-Lektüre wird abgehakt. Was ist Dialektischer Materialismus auf der Bühne? Eine ideologische Indoktrination? Und: Worin besteht Episches Theater? Ruth Berghaus wird es konsequent auf die Oper anwenden, weiterführen. Elektrisiert von der Commedia dell´arte funkt das noch heute in ihrer Inszenierung des Barbiers von Sevilla (Ausstattung: Achim Freyer, 1968!) Unter den Linden. Aber die Leichtigkeit und Heiterkeit waren nicht Attribute von Ruth Berghaus’ später Arbeit, wie die Autorin behauptet, sondern vor allem der Jahre am BE. Zeitzeugen bekunden es.
Was wohl ist gemeint mit der Idee, von der sich Ruth Berghaus nach Abschied der DDR nicht verabschieden konnte und wollte? Corinne Holtz identifiziert diese Idee, diesen Traum bruchlos mit der DDR. Auf den Dramatiker Peter Hacks (Omphale) und seine Ästhetik der Oper wird mit keinem Satz eingegangen. Pina Bausch wird nicht genannt, nicht Bob Wilson. Dafür wird das musikalische Theater Marthalers hochstilisiert zur Erfüllung Berghausscher Ideen – was schon inhaltlich nicht sein kann, ästhetisch schiefliegt und beiden Künstlern Unrecht tut.
Die langjährige Mitarbeiterin der Berghaus, die Musikwissenschaftlerin Sigrid Neef, will Corinne Holtz – zu Recht – als wichtige Autorin würdigen, ohne ihre Stasi-Zuarbeit zu ignorieren. Es gibt eine seitenlange Referierung dieser widersprüchlichen Beziehung. Doch bleibt es letztlich bei pauschalen Zuordnungen, und die angekündigte »Würdigung« der Arbeit fällt aus, kein Wort dazu.
Dabei hätte diese Auseinandersetzung lebendig werden können. Jenseits politisch ebenso »korrekter« wie simpler Schemata über die Staatskunst der DDR vermochte Neef vielmehr plausibel zu machen, daß im Sinne Heiner Müllers »Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen« Oper in der DDR Teil einer kulturellen Gegenöffentlichkeit werden konnte. So ist der Begriff von der »poetischen Subversion« bei Berghaus relevant. Corinne Holtz erwähnt den Begriff, ohne ihre Quelle zu nennen. Sehgewohnheiten zu durchbrechen, Neugier, Lust des Erfahrens zu steigern, das war der Kunstsprengstoff von Berghaus.
Das Buch spekuliert auf Sensationsgelüste der einst sich »provoziert« Fühlenden. Über diesen Aspekt kommt der Text kaum hinaus: Die lang erarbeiteten Aufführungen der Berghaus hätten selbst »intellektuell Aufgeschlossene« überfordert. Man fragt sich, ob das nicht bereits auf die Text-Musik-Partituren von Mozart, Wagner oder Berg zutraf?
Eine Frage, die Corinne Holtz in keinem Moment dämmert. Sie ist an Stasi-Informanten interessiert. Jetzt kennen wir sie alle, die Decknamen der Spitzel, die sich im Umfeld der Künstlerin tummelten, inklusive Akten-Register-Nummern. Doch der Skandal um die Absetzung der Berliner Ring-Inszenierung gewinnt keine Brisanz. Den er zweifellos hat, noch jetzt! Dazu bedürfte es eines anderen Instrumentariums. Die Autorin macht es sich allzu einfach, eine »politische Biographie« bietet sie nicht.
Es sind die wohlfeilen Schemata von den »zwei deutschen Diktaturen«, die eine Wahrnehmung der Vorgänge und Zusammenhänge verkleistern: »Der Beobachter sieht nichts« heißt es bei Johannes Bobrowski (auch er wird nicht genannt). Die Probleme im Umfeld der Biermann-Ausbürgerung waren wohl komplexer. Die Unkenntnis von DDR-Wirklichkeit wie der gegenwärtigen wetteifert mit der Unkenntnis des höchst vielgestaltigen Werks der Berghaus. Im Werkverzeichnis des Buches fehlen Stella (kein Druckfehler, auch im Fließtext wird behauptet, 1976 hätte Ruth Berghaus »nur« Baierls Der Sommergast inszeniert), die TV-Aufzeichnungen von Zement und Im Dickicht der Städte; der Lukullus-Beitrag wurde 1992 vom ORB gesendet und entstand nicht erst 1994, und so weiter. Wer nicht vorkommt, ist immerhin Claudio Abbado, neben Harnoncourt und Gielen einer der bedeutendsten Dirigenten der Ära 1980/90, mit dem Ruth Berghaus in Wien Schuberts Fierrabas wiederentdeckte und in dessen Haus sie ein gemeinsames Filmprojekt realisierte: L’histoire du soldat von Stravinsky (Regie: Maxim Dessau, auch dieser Film fehlt in der Auflistung), man erfährt darüber nichts. Corinne Holtz geht nicht auf die Rückkehr zum Tanz ein, als Ruth Berghaus Henzes Orpheus-Ballett für die Wiener Staatsoper choreographierte. Ein Hauptmerkmal ihres Theaters waren die Bewegungserfindungen, der Umgang mit Körper und Musik: Reibungen im Raum der Geschichte. Wer war Ruth Berghaus?
Corinne Holtz protokolliert im Kulturbeilagenstil (der Vokabeln wie »verortet« nicht schmäht) eine fleißige Archivarbeit, Recherchen und Gespräche (manch Interview-Partner zog sich zurück, andere verweigerten sich). Am einfühlsamsten sind vielleicht die Jugendjahre während des Krieges und in der schweren Zeit danach geschildert. Aber was etwa bestimmte die Auswahl von Mitarbeitern bei Ruth Berghaus? Was wären Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Formsprachen von Strandt, Schlieker, Schaal, Scharich, Manthey, Freyer, Reinhard, Schubert? Diese Untersuchungen, die sich kunst- und kulturgeschichtlich als aufschlußreich erweisen würden, und noch vieles mehr, bleibt die Autorin schuldig. Gern hätte man ein Buch von der ebenso kritischen wie einsichtigen Art Sabine Kebirs aufgeschlagen. Sie schrieb maßstabsetzende Biographien über Elisabeth Hauptmann und Helene Weigel – zwei Frauen Brechts. Deren Niveau erreicht Corinne Holtz an keiner Stelle. Ruth Berghaus starb vor zehn Jahren in Zeuthen bei Berlin.

Corinne Holtz: Ruth Berghaus. Ein Porträt. Europäische Verlagsanstalt Hamburg, 398 Seiten, 24,90 Euro