Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Hugh Nibley

von Axel Fair-Schulz, Fort Erie/Canada

Gern nennen ihn Mitglieder ihrer Kirche den Einstein der Mormonen. Doch der im Februar dieses Jahres mit 95 Jahren verstorbene Hugh Winder Nibley spielte viel eher eine Rolle, die – zumindest partiell – an Jürgen Kuczynski in der DDR erinnert. Wie überhaupt einiges bei den Mormonen zumindest im US-Bundesstaat Utah dem vormals real existierenden Sozialismus ähnelt. Allerdings einer wirtschaftlich erfolgreicheren Variante. Daher war es auch kein Wunder, daß Erich Honecker in den achtziger Jahren den kaum mehr als viertausend DDR-Mormonen immer freundlicher gegenüberstand und ihnen gar die Erlaubnis erteilen ließ, einen für Mitglieder der Staatsorgane nicht zugänglichen Tempel in Freiberg zu bauen. Er lud auch amerikanische Missionare in die DDR ein. DDR-Mormonen durften im Mai 1989 mit dem ausdrücklichen Auftrag für zwei Jahre in das kapitalistische Ausland reisen, dort auch die Vorzüge der zur Heimat aller ihrer Bürger, unabhängig ihrer weltanschaulichen Präferenz, gewordenen DDR zu verkünden. Sie fuhren alle mit DDR-Dienstreisepässen. Die wurde ein paar Monate später ungültig.
Genauso wie Kuczynskis bildungsbürgerlicher Habitus und sprichwörtliche Leistungsethik Farbe in das Sozialismusgrau brachte, so suggerierte die Präsenz des unermüdlich schreibenden und enzyklopädisch gebildeten Altertumswissenschaftlers Nibley Vielfalt in der Konformität des Glaubens. Ähnlich wie Kuczynski konnte sich Nibley mehr Kritik an der Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten erlauben als die meisten anderen innerhalb des Systems, da seine fundamentale Loyalität nie ernsthaft in Frage stand. Und auch Nibley war sowohl Redenschreiber für Kirchenführer wie auch Querdenker in den eigenen Reihen. In Berkeley promoviert, wirkte er fast sein ganzes wissenschaftliches Leben lang als Professor an der mormonischen Brigham Young University.
Es ist schon ungewöhnlich, in einer der konservativsten amerikanischen Kirchen einen pazifistisch, ökologisch, gar »sozialistisch« orientierten Intellektuellen zu finden. Zwar haben die Mormonen in ihrer über hundertfünfzigjährigen Geschichte einige interessante Denker hervorgebracht, doch waren diese wie Orson Pratt, Brigham H. Roberts, James Talmage und John Widtsoe als Würdenträger nahezu ausschließlich innerhalb der Kirchenhierarchie wirksam. Nibleys Ruhm und Einfluß hingegen gründete sich auf seine intellektuell-polemischen Meriten. Wie Jürgen Kuczynski war Nibley weniger ein systematisch-analytischer Denker als ein mehr assoziativ operierender Stichwortgeber und Anreger. Was für Kuczynski die Klassiker des Marxismus-Leninismus waren (die er zuweilen interessant-kreativ und zuweilen naiv interpretierte), war für Nibley das Buch Mormon – auch wenn diese nun wahrlich sehr unterschiedlichen Texte natürlich nicht gleichzusetzen sind. Das Buch Mormon entstand Anfang des 19. Jahrhunderts. In ihm wird die jüdisch-christliche Heilsgeschichte nach Amerika verlagert. Dabei werden jedoch nicht nur dortige geistig-kulturelle Strömungen aufgenommen und neu gebündelt, sondern auch Impulse der europäischen radikal-reformatorischen hermetischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts hineingewebt.
Nibley versuchte nachzuweisen, daß das Buch Mormon eine zwischen 2000 vor und zirka 400 nach unserer Zeitrechnung entstandene Heilige Schrift sei. Er zog dafür zahlreiche linguistische, archäologische und anthropologische Parallelen von der Alten zur Neuen Welt. Und obgleich auch heute nur gläubige Mormonen von der historischen Existenz der jareditischen und nephitischen Einwanderergruppen vom biblischen Israel nach Amerika ausgehen, so hat Nibley doch mit Witz und teilweise brillanten Einfällen entsprechende Apologetik erträglich, ja streckenweise sogar interessant gemacht. The World of the Jaredites, Lehi in the Desert sowie An Approach to the Book of Mormon sind seine bekanntesten Arbeiten zu diesem Thema. Für Nicht-Mormonen sind jedoch diejenigen Nibley-Werke lesbarer, die – von den ethischen Maximen seiner religiösen Tradition ausgehend – mormonische und allgemein amerikanische Gegenwart kritisieren. Nibley blieb bis zu seinem Tode ein unbeugsamer Gegner von hohlem Konsumismus, Marktradikalismus, Militarismus und »patriotischer« Arroganz. Wer sein Since Cumorah liest, ist sich zuweilen nicht sicher, einen gläubigen Mormonen oder aber einen linken Gesellschaftskritiker vor sich zu haben.
Leider war Nibley wie übrigens auch Kuczynski ein Unikat und konnte den Lauf der konformistischen und autoritären Dinge nicht ändern. Dieser Lauf könnte uns allen demnächst den ersten mormonischen USA-Präsidenten bescheren. Mitt Romney, derzeit erzkonservativer Gouverneur von Massachussetts, versucht dort gerade die Todesstrafe wieder einzuführen und Sozialprogramme weiter abzubauen. Denn politische Abstinenzler sind viele Mormonen nur, wenn es um emanzipatorische Projekte geht. Ansonsten sucht die Kirchenführung in Salt Lake City, durch Gesetzesinitiativen, Petitionen und ihr aggressives Missionierungsprogramm, Amerika und die Welt in ihr Ebenbild umzuwandeln. Auch zahlenmäßig fallen sie dabei zunehmend ins Gewicht. In weniger als fünfzig Jahren könnte es über hundert Millionen Mormonen weltweit geben. Sollte Romney 2008 gewinnen – Hugh Nibley würde sich im Grabe umdrehen.

Hugh Nibley: Since Cumorah (Collected Works of Hugh Nibley, Vol. 7), Deseret Book Company; Boyd Jay Petersen: Hugh Nibley: A Consecrated Life, Greg Kofford Books Inc.