Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25

Ein Kurt als Schwejk

von Maurice Schuhmann

Hätte die NVA-Führung gewußt, wen sie sich 1972 mit dem Wehrdienstleistenden Kurt W. Fleming ins Nest setzte, hätten sie ihn wahrscheinlich freiwillig ausgemustert. Der damals neunzehnjährige, vom Guerillakampf in Lateinamerika träumende junge Mann bescherte der Nationalen Volksarmee und seinen Vorgesetzten nur Schimpf und Schande. In tragigkomischer Weise stolperte er in den achtzehn Monaten von einem Schlamassel in den nächsten und ließ nur selten ein Fettnäpfchen aus. Ähnlich wie Haseks Schwejk brachte Kurt mit seiner Unfähigkeit zur militärischen Haltung seine Vorgesetzten zur Weißglut; aber wenn sie alles erfahren hätten, wären sie wahrscheinlich ganz und gar geplatzt.
Solidarisch rettete er einen Leidensgefährten vor einer Verurteilung durch das Militärgericht: »Eines Tages war es soweit: Ein Wehrdienstleistender hatte wieder einmal Mist gebaut und ließ sich dabei erwischen. […] Und dann war er da: der schicksalhafte Tag. Harry saß vor mir: niedergeschlagen, mit aschfahlem Gesicht und schien zu denken, daß ihm nicht mehr geholfen werden kann. […] Mir wurde befohlen, die Papiere für die Überführung vorzubereiten. Militärpolizisten sollten ihn zum Militärstaatsanwalt bringen, der, wenn ich mich nicht irre, im Divisionsstab sein Zuhause hatte. Ich ging mit mir selbst zu Rate, was zu machen sei. Ich hatte eine Idee, die umzusetzen so schwer nicht war. Es kam mir nämlich dabei meine Leidenschaft im Nachahmen von Unterschriften zugute. Jeder Soldat hatte in seiner Personalakte so etwas wie ein ›Führungszeugnis‹. […] Ich nahm also eine nagelneue Karte und schrieb ihm ein neues ›Führungszeugnis‹.«
Auch was die Gewährung von zusätzlichem Essengeld oder Urlaub anging, war der Schreiberling Fleming sehr freigiebig gegenüber sich selbst und anderen. Weniger Eifer entwickelte er hingegen für militärische Übungen, wo er das Lebensmotto seines Vorgesetzten »In der Ruhe liegt die Kraft.« als gelehriger Schüler in die Praxis umsetzte.
Neben einigen, aus heutiger Sicht sehr amüsanten Anekdoten tauchen einige, leider wenig ausgeführte Passagen über Rechtsextremismus und Gewalt bei der NVA auf: »Es gab da mehrere Grausamkeiten, die stattfanden, und es gab auch in Folge dieser sogar Todesfälle zu beklagen. Eine solche Grausamkeit, die einen Soldaten das Leben kostete, war die sogenannte Musik-Box. Diese Musik-Box war in Wirklichkeit ein Spind. Die Sache lief wie folgt ab: Wenn einer dieser hirnrissigen EKs [EK – Entlassungskandidat; Bezeichnung für Grundwehrdienstleistende, die bereits eine Weile hinter sich hatten.] meinte, sein Verständnis von Spaß zelebrieren zu müssen, zwang er einen Soldaten, in seinen Spind zu steigen. Dieser wurde dann abgeschlossen. Die EKs warfen kleine Geldstücke ein und verlangten, daß der eingesperrte Soldat irgendein Lied singen sollte. Das ging solange, bis die EKs keinen Spaß mehr daran hatten. Es gab aber auch einen Fall, daß ein Soldat sich weigerte, sich in seinen Spind einschließen zu lassen. Also wurde er gepackt und mit Brachialgewalt eingesperrt. Als er sich dann immer noch weigerte zu singen, wurde der Spind auf den Kopf gestellt. Sie traten mit ihren Stiefeln gegen den Schrank. Und immer noch weigerte er sich, ein Lied zu singen. Plötzlich öffnete ein EK das Fenster, und er und die anderen packten den Spind und warfen ihn aus dem Fenster, das sich im 2. Stock befand. Der Spind schlug unten auf, zerbarst, und der Soldat war auf der Stelle tot.«
Flemings Schwäche: Die Geschichten sprudeln aus ihm so heraus, als ob er sie in lockerer Runde bei dem einen oder anderen Bier erzählen würde. Stilistisch ist er damit weit entfernt von seinem Vorbild Hasˇek und verschenkt viel Rohmaterial, aus dem er hätte viel mehr machen müssen. Das Ganze wirkt wie eine erste Version, die den Grundstock für ein richtiges Buch bilden soll.
Manch eine Anekdote hätte er sich sparen können. Doch insgesamt bietet er einen Einblick in die Gefühlswelt eines einfachen Soldaten während des Wehrdienstes bei der NVA – anekdotenreich und kritisch. Seine Erinnerungen speisen sich aus Tagebucheintragungen, so daß trotz des großen zeitlichen Abstands von einer gewissen Authentizität ausgegangen werden darf.

Kurt W. Fleming: Ein Schwejk in der NVA. Mit Zeichnungen von Michael Blümel, Edition Unica Leipzig, 136 Seiten, 12,80 Euro