Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 21. November 2005, Heft 24

Grenzstation

von Mateusz J. Hartwich, Slubice

Es gibt einen Ort, an dem im Kalten Krieg die Teilung Europas noch skurrilere Formen annahm als nach 1945 zwischen Frankfurt/Oder und Słubice. Er ist zugleich ein Ort, an dem auch die Überwindung dieser kalten Grenzen außergewöhnliche Formen annimmt. Er heißt Gorizia/Nova Gorica.
Als 1947 eine neue Grenze zwischen Italien und dem nunmehr kommunistischen Jugoslawien gezogen werden sollte, gab es zwischen den Ländern vor allem zwei Streitpunkte: die alte mitteleuropäische Metropole Triest (auf slawisch Trst genannt) und die alte slawische Hauptstadt Gorica. Die erstere fiel Italien zu, wobei das Gebiet rund um die Stadt Claudio Magris’ wie eine Landzunge ins jugoslawische Istrien hineinragte, das letztere wurde zu einer geteilten Stadt. Dem Abkommen von Paris folgend, übergab man Italien nahezu das gesamte Stadtgebiet, mit Ausnahme des Bahnhofes und einiger Vororte. Deshalb beschloß Josip »Broz« Tito, auf seiner Seite der Grenze eine neue, sozialistische Stadt aufzubauen.
Bis heute säumen zahlreiche Hinterlassenschaften »moderner« Architektur die Straßen von Nova Gorica – alle fünfzig Meter eine Büste eines berühmten Südslawen – wobei sich Funktionsbauten mit Casinos, einem Erzeugnis der letzten Jahre, abwechseln. Die vergangenen fünfzig Jahre der Entwicklung beider Städte sind gekennzeichnet von verschlafener Isolation – beide Seiten nahmen wenig Notiz voneinander. Doch es gibt Spuren einer tiefschlummernde Rivalität. Man erkennt sie zum Beispiel daran, daß die Slowenen auch »ihr« Gorica einfach nur Gorica nennen, als ob es das ursprüngliche, das wahre wäre. Sogar das amtliche Autokennzeichen beginnt mit einem »GO« – genauso wie jenes auf der italienischen Seite.
Fährt man vom Süden in Richtung Nova Gorica, passiert man eine schöne Weinstraße sowie einen Berghang, auf dem weiße Steine bis heute den Namen »Tito« der Welt verkünden. Die Stadt selbst hat aber außer einigen Casinos – ausschließlich auf die Bedürfnisse italienischer Glücksspieltouristen ausgerichtet – wenig anzubieten. Von Grenzinfrastruktur und Zweisprachigkeit keine Spur, obwohl die Region Primorska in ihrem südlichen Teil bis heute von einer italienischen Minderheit geprägt wird, so daß Küstenorte wie Koper das Flair einer alten venezianischen Hafenstadt versprühen. Befände sich nicht der Nachtklub einige hundert Meter vor dem Grenzübergang, würde man kaum vermuten, in einer Grenzstadt zu sein – einmal angesehen vom Einkaufstourismus, zu dem die Einkommensunterschiede natürlich einladen.
Das Abfertigungshäuschen taucht völlig unscheinbar im Stadtbild auf, doch biegt man in die Bahnhofsstraße ulica Kolodvorska ein, bemerkt man schnell einen Metallzaun. Diese Absperrung, die einst das sozialistische Jugoslawien vom kapitalistischen Italien und das Zentrum Gorizias von seinem früheren Bahnhof trennte, macht aber eher den Eindruck eines Gartenzauns als eines »antifaschistischen Schutzwalls«. Kommt man auf das Bahnhofsgelände, wird man vom Anblick eines runden Platzes mit einem Steinmosaik überrascht, das in der Mitte den Grenzverlauf wiedergibt.
Mit einer großen symbolischen Geste wurde dieser Grenzstreifen in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai des vergangenen Jahres in einen öffentlich zugänglichen, offenen Platz verwandelt, auf dem man grenzüberschreitend spazieren kann, ohne allerdings den offenstehenden Weg ins jeweils andere Land betreten zu dürfen. Auch auf einen gemeinsamen Namen hat man sich nicht einigen können; so heißt der Platz auf italienischer Seite Piazzale della Transalpina, während er in Slowenien Teil der ulica Kolodvorska bleibt.
Hinter dem roten Strich auf dem Mosaik des neuen Europa begegnen wir zwei Indern, die Teilnehmer eines internationalen Folkfestivals in Gorizia sind. Sie wohnen im Hotel Transalpina, zehn Meter hinter der Grenze, doch überschreiten dürfen sie sie nicht. »Ach wissen Sie, wir sind ja aus Indien. Über die Grenze nach China darf man sowieso nicht, und Pakistan ist weiterhin Feindesstaat. Für uns ist also Grenzüberschreitung, wie man sie hier praktiziert, schon etwas Faszinierendes.« Zwei Slowenen auf Inlineskates, die ihre Runden über den Platz drehen, gesellen sich hinzu. Ob sie oft nach Italien fahren? – Nein, eher nicht. Kein Bedarf. Vielleicht wegen des guten Essens? – Da ist es viel teurer und außerdem: Same shit everywhere. Ein weiterer, italienischer Teilnehmer des Folkfestivals kommt hinzu, nur leider spricht er kein Englisch und kann daher nur mit den Slowenen reden. Diese sprechen Italienisch, nur umgekehrt haben die Gorizianer kein Bedürfnis, Slowenisch zu lernen.
Wir verabschieden uns, gleich geht es vom Bahnhof von Nova Gorica aus weiter Richtung Norden. Ein älteres italienisches Paar hat gerade seinen Kaffee im Bahnhofsrestaurant ausgetrunken und kehrt wieder in Richtung Italien um. Den Polizisten, die sich in der Nähe in ihrem Geländewagen postiert haben, scheint das egal zu sein. Plötzlich werden wir auf Polnisch angesprochen – ein Anarchist will wissen, wann der Zug nach Ljubljana geht: »Wißt ihr, ich komme aus Tschechien, spreche Polnisch, Italienisch und Spanisch. Aber ich kann mich mit den Leuten hier nicht verständigen …«

M. J. Hartwich, Journalist und Übersetzer, promoviert an der Viadrina, er ist Vorsitzender des Vereins »transkultura« und publiziert unter anderem online bei www.slubice.de

Wir dokumentieren einen Text von Viola Roggenkamp in der »Jüdischen Allgemeinen«, den die »Berliner Zeitung« in ihrer Rubrik »Pressestimmen« am 16. August 2005 auszugsweise nachdruckte. Weiterhin veröffentlichen wir eine Antwort auf diesen Text vom ehemaligen Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Thomas Hoffmann, die die »Berliner Zeitung« nicht druckte.