Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 21. November 2005, Heft 24

Ein Kryptofaschist?

von Thomas Hoffmann

Sehr geehrte Damen und Herren,
die »Berliner Zeitung« vom 16.08.05 dokumentierte auf S. 4, in der Rubrik »Pressestimmen« einen Text aus »Jüdische Allgemeine«, der von Viola Roggenkamp verfasst wurde und sich mit dem Schriftsteller Thomas Mann befasst.
Mit äußerstem Befremden habe ich diese maßlose Beschmutzung des Hauptes der literarischen Emigration nach 1933 und bis 1945 und Sprechers des anderen Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus gelesen. Ich frage mich, was die Autorin damit bezweckt, einen bedeutenden, bürgerlichen Schriftsteller derart mit Unrat zu bewerfen, indem sie ihn die Nähe des von ihm bekämpften Nationalsozialismus rückt, obwohl sein Leben und Werk das gerade Gegenteil beweisen.
Ich kann einräumen, dass Thomas Mann im Laufe seines Lebens auch Irrtümer des deutschen Bürgertums geteilt hat, ja dass es Unterschiede zwischen dem Verfasser der »Betrachtungen eines Unpolitischen«, dem Autor des »Zauberberges« und dem Verfasser von »Joseph und seine Brüder« gibt. Seine Entwicklung verläuft von Positionen einer geistigen Verklärung des Wilhelminismus über die kritische Verteidigung der Weimarer Republik hin zu einer klaren Parteinahme für die »Anti-Hitler-Koalition« der deutschen Gegner im Zweiten Weltkrieg. Ich würde uns allen wünschen, die Mehrheit der Deutschen hätte eine so unzweideutige Entwicklung genommen, wir wären bis heute um einige Probleme ärmer.
Eine philologische Auseinandersetzung mit dem Text der Frau Viola Roggenkamp ist wegen der Hermetik ihrer Argumentation kaum möglich, zu Einwänden in Details lädt er nicht ein, man kann nur »ja« oder »nein« sagen. Insofern ähnelt er totalitärer Propaganda gegen das deutsche Bürgertum, wie man sie aus KPD- und NSDAP-Organen der Weimarer Republik kennt.
Vor mir liegt ein Taschenbuch von Thomas Mann mit dem Titel »Deutsche Hörer!«. Es enthält die Reden, welche der Schriftsteller über den britischen Rundfunksender BBC in den Jahren 1940-1945 für illegale Zuhörer in Nazi-Deutschland gehalten hat. Der heutige Leser dieser Reden kann nur den Kopf schütteln über den Unverstand eines Textes wie den der Frau Viola Roggenkamp.
In Thomas Manns Rundfunk-Rede vom 10. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands, heißt es: »Und dennoch, die Stunde ist groß – nicht nur für die Siegerwelt, auch für Deutschland – die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht ist, das wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelt und Deutschland von dem Fluch wenigstens befreit ist, das Land Hitlers zu heißen. Wenn es sich selbst hätte befreien können, früher, als noch Zeit dazu war, oder selbst spät, noch im letzten Augenblick; … anstatt dass nun das Ende des Hitlertums der völlige Zusammenbruch Deutschlands ist, das wäre besser, wäre das Allerwünschenswerte gewesen. Es konnte wohl nicht sein. Die Befreiung musste von außen kommen …«
Im Falle einer, hier von Thomas Mann erörterten, politischen Selbstbefreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus, zu der es leider nicht kam, wären manche Folgen von Besatzungsherrschaft in Ost und West und, daraus resultierend, manche geistige Barriere, nicht so tief. Auch die Verunglimpfung des bedeutendsten deutschen Schriftstellers nach Goethe durch Frau Viola Roggenkamp wäre leichter als das zu erkennen, was es ist: blindwütige Bilderstürmerei.
Meine Großeltern, liberale Bürger in der preußischen Rheinprovinz, Gegner des Nationalsozialismus und Unterstützer der jüdischen Gemeinde ihres Wohnortes Sobernheim vor und nach 1933, haben Thomas Manns Reden über BBC heimlich gehört. In Zeiten besonderer Gefährdung durch die Büttel des NS-Regimes waren ihnen diese, von jenseits des Ärmelkanals übertragenen Reden ein Trost und eine Ermutigung, Dass da ein deutscher Kryptofaschist, wie Frau Viola Roggenkamp es in ihrem famosen Text insinuiert, über einen Sender spricht, wäre meinen Großeltern nicht in den Kopf gekommen
Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen Brief Ihren Lesern zur Kenntnis geben würden …