Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 21. November 2005, Heft 24

Die Mauer

von Gabi Zimmer, Jerusalem

Sie ist noch höher, als es die Berliner Mauer je war, neun Meter, höher als manches Haus. Sie trennt Nachbarn von Nachbarn, Kinder von ihrer Schule, Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz. Wie eine gefräßige Raupe windet sie sich kreuz und quer durch die Jerusalemer Altstadt. Täglich ein Stück weiter. Mit der Greene Line  hat sie zum Teil gar nichts mehr zu tun. Ihr Verlauf folgt politischen Interessen.
Bei einer israelischen Familie kam sie morgens in den Vorgarten. Bäume und Sträucher wurden abgeholzt, das Gelände planiert, und schon stand sie da, einen Meter entfernt vor dem Wohnzimmerfenster. Die Familie hatte Glück, sie erhielt einen Schlüssel für eine kleine Tür in der Mauer, die sie nun mit dem städtischen Leben verbindet. Palästinenser hingegen müssen weite Umwege gehen, bis zum nächsten Checkpoint, der so schmal ist, daß nur jeweils eine Person ihn passieren kann. Ich hätte mir nie vorstellen können, daß nach 1989 noch jemand ernsthaft glaubt, die Errichtung einer Mauer zwischen Völkern könne zum Friedenserhalt beitragen.
Ich stehe an einem dieser kleinen Mauselöcher, an einem Checkpoint. Eine Palästinenserin mit einem Kind auf dem Arm quält sich auf dem steinigen, staubigen Trampelpfad den Hügel hinauf. Eine Straße gibt es hier nicht. Ein junger, vielleicht 19jähriger, bis an die Zähne bewaffneter Soldat fragt sie barsch nach ihrem Woher und Wohin. Warum er dieser Frau nicht ein wenig Respekt entgegenbringt, frage ich ihn. »Das sind doch alles Terroristen«, lautet seine Antwort. Sie zeigt, wie tief Haß und Mißtrauen sitzen.
Dennoch, es gibt auch Hoffnung. Seit achtzehn Jahren stehen jeden Freitag die Women in black vor dem israelischen Regierungssitz, fordern das Ende der Okkupation, wollen Frieden, gute Nachbarschaft. Es sind wenige, sie haben sich über den Platz verteilt. Viele sind über die Jahre bereits ergraut. Unwahrscheinlich ruhig und souverän sind sie. Manche kamen bereits nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel, in der Erwartung, Frieden zu finden. »Wir können nicht verstehen, warum nach all der geschichtlichen Erfahrung der israelische Staat nicht alle Möglichkeiten der Versöhnung nutzt«, erklärt mir eine. Dabei lehnen nach Umfragen inzwischen mehr als sechzig Prozent der israelischen Bevölkerung die Okkupation ab.
Tausende sind zu den Friedensdemonstrationen gekommen, zu denen israelische und palästinensische Friedensgruppen aufgerufen und Louisa Morgantini und mich von der Europäischen Linksfraktion sowie Michel Roccard von den französischen Sozialisten eingeladen hatten. Tausende, vor allem junge Leute. Nachmittags in Ramallah, abends in Jerusalem vor Scharons Residenz. Sie fordern das Ende der Okkupation und Frieden jetzt. Tags zuvor gab es bei einer Hamas-Parade im Gazastreifen eine Explosion, die viele Menschen tötete. Hamas beschuldigte sofort die israelische Armee, diese wiederum dementierte. Präsident Abbas spricht auf der Demonstration in Ramallah von einem Unglück. Nun ist wieder Krieg. Von beiden Seiten fliegen Raketen. Der Djihad kündigte den Waffenstillstand auf, die Hamas verkündete den Stop des Raketenbeschusses auf Israel. Die israelische Armee droht mit dem Einmarsch in Gaza.
Die gezielte Ermordung militärischer Führer des Djihad wird wieder aufgenommen. In den Westbanks finden Razzien und Verhaftungen statt. Am Rande der Demonstration in Jerusalem kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen jungen Friedensaktivisten und jungen Siedlern. Sie sind fast noch Teenager. Von der Polizei getrennt, schreien sie sich haßerfüllt an. Normal reden können sie nicht mehr miteinander. Zeichen, wie fragil der Frieden ist und wie tief der Riß selbst durch die israelische Gesellschaft geht.
Zwischen Tel Aviv und Jerusalem wurde eine neue Straße durch die Berge gebaut. Sie wirkt wie eine Mauer, trennt palästinensische Bauern von ihren Feldern und vom Wasser. Im arabischen Teil von Jerusalem haben viele Hotelbesitzer ihre Häuser geschlossen. Sie wissen nicht, ob ihre Angestellten am nächsten Tag noch zur Arbeit kommen können, weil die Soldaten an den Checkpoints darüber entscheiden, wer passieren darf und wer nicht. Und Gäste kommen ohnehin kaum noch. Überall zerstörte Straßen und Häuser, dann wieder neue Wohnkomplexe der Siedler. Sogar im arabischen Viertel der Altstadt hängen demonstrativ israelische Fahnen aus Häusern, die früher Arabern gehörten. Deren Eingänge werden von der israelischen Armee bewacht. Armut, Verfall und Demütigung sind keine Grundlage für den Friedensprozeß. »In Gaza kannst du für hundert Schekel einen Mann bezahlen und bewaffnen, so tief ist die Armut«, sagt mir ein Palästinenser. Hundert Schekel sind ungefähr zwanzig Euro.
Von den Geldern der EU kommt bei den Menschen in den Flüchtlingslagern kaum etwas an. Beschäftigung, Bildung, Gesundheit – in konkreten Projekten vor Ort könnte viel mehr erreicht werden. Statt dessen kümmert sich die Hamas, ist sozial verankert, sorgt sich um die Familien der Märtyrer.
Alle reden über die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen und einiger weniger in der Westbank. Dabei haben nur zwei Prozent der Siedler besetztes Territorium verlassen. Der Mauerbau geht indes weiter. Kaum wahrgenommen von der europäischen Öffentlichkeit. Darum wollen Louisa Morgantini und ich in den kommenden Wochen mit Europaabgeordneten anderer Fraktionen sprechen. Mit einem Jerusalem-Hearing im Europäischen Parlament sollen der Mauerbau und seine Folgen für die in und um Jerusalem lebenden Menschen, für die soziale und kulturelle Entwicklung der Stadt sowie für den Friedensprozeß diskutiert werden.

Gabi Zimmer ist Mitglied der GUE/NGL-Fraktion im Europaparlament